Titelbild Osteuropa 5-6/2014

Aus Osteuropa 5-6/2014

Dezentralisierung und Subsidiarität
Wider die Föderalisierung à la russe

Mykola Rjabčuk

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Abstract in English

Abstract

In der Ukraine ist der Ruf nach einer Föderalisierung des Landes laut geworden. Ihre Verfechter sehen darin einen Weg, die Spannungen zwischen den Regionen zu reduzieren. Gegner befürchten die Zunahme zentrifugaler Tendenzen. Moskau propagiert die Föderalisierung, um so Einfluss auf die Ukraine zu behalten oder gar um das Land nach dem Beispiel Bosniens zu lähmen. Statt über Föderalisierung à la russe nachzudenken, sollte Kiew funktionierende staatliche Institutionen aufbauen und Reformen zur Dezentralisierung und Stärkung der Selbstbestimmung auf kommunaler und regionaler Ebene beginnen. Das wäre der wichtigste Beitrag zur Stärkung der Staatlichkeit und der Demokratie.

(Osteuropa 5-6/2014, S. 217–226)

Volltext

Um es frei nach Karl Marx und Friedrich Engels zu sagen: Ein Gespenst geht um in der Ukraine – das Gespenst des Föderalismus. Für die einen ist eine gründliche Föderalisierung des Landes das einzige Heilmittel gegen seine aktuellen innenpolitischen Schwierigkeiten. Für die anderen ist es ein als Medizin verkleidetes Gift, das nur zum vollständigen Zusammenbruch des Landes und seiner teilweisen oder gänzlichen Einverleibung durch Russland führen kann. Die bittere Ironie der Situation ist, dass beide Seiten Recht zu haben scheinen.

Der Föderalisierungsgedanke ist viel älter als die Ukraine selbst. Nahezu alle Gründungsväter der ukrainischen Nation machten Vorschläge zu der Idee:[1] angefangen von Taras Ševčenko, dem Dichter des 19. Jahrhunderts, mit seiner geheimen Bruderschaft der Heiligen Kyrill und Method, über die Historiker vom Anfang des letzten Jahrhunderts, Mychajlo Drahomanov (1841–1895) und Mychajlo Hruševs’kyj (1866–1934), bis zum Anführer der antikommunistischen Opposition am Ende des letzten Jahrhunderts, Vjačeslav Čornovil.[2] Sie alle äußerten ihre Ansichten allerdings in einem grundsätzlich anderen Kontext. Die Ukraine war damals kein souveräner Staat, sondern ein untrennbarer Teil des Imperiums. Jede Föderalisierung des Reiches oder innerhalb des Reiches bedeutete für sie einen richtigen Schritt hin zu nationaler Befreiung und größerer Souveränität.

Außer auf diese eher unklaren historischen Argumente beziehen sich die Befürworter einer Föderalisierung auch auf signifikante kulturelle Unterschiede zwischen den Regionen, die von deren jahrhundertelanger Zugehörigkeit zu unterschiedlichen politischen Gebilden herrühren. Tatsächlich fügten erst im 20. Jahrhundert die Bolschewiki die meisten ethnisch ukrainischen Gebiete zusammen. Es gelang ihnen allerdings nicht, durch die erzwungene Sowjetisierung deren unterschiedliche politische, kulturelle und religiöse Traditionen auszulöschen. Doch in den mehr als zwei Jahrzehnten, die seit der Erlangung der nationalen Unabhängigkeit der Ukraine Ende 1991 vergangen sind, ist es ebenfalls nicht gelungen, die vielfältigen Territorien der Ukraine einander stärker anzunähern. In einer repräsentativen landesweiten Umfrage von 2006 erklärten die Befragten in allen südöstlichen Regionen, dass sie sich kulturell und psychologisch („in Bezug auf das Wesen, die Bräuche und die Traditionen“) den Russen näher fühlten als den Westukrainern. Die Befragten im Süden und Osten empfanden nicht nur die Russen, sondern auch die Belarussen als „uns“ näher, als die Westukrainer oder in manchen Fällen sogar die Einwohner Kiews und der Zentralukraine.[3]

Angesichts dysfunktionaler Institutionen, schwacher Rechtsstaatlichkeit und des geringen nationalen Zusammenhalts könnte eine Föderalisierung eher zentrifugale Tendenzen verstärken, als Spannungen zwischen den Regionen zu reduzieren und gegenseitige Vorurteile zu zerstreuen. In einer umfassenden Analyse der Verwaltungsreform in Polen und ihrer Anwendbarkeit auf die Ukraine äußerte Hennadij Poberežnyj begründete Bedenken:

Wie Polen verfügt auch die Ukraine über historisch voneinander verschiedene Regionen und Regionalismen, aber im Unterschied zu Polen ist es ihr nicht gelungen, einen relativ hohen Grad nationaler Konsolidierung zu erreichen, unter der regionale und nationale Identitäten eher komplementär als konkurrierend sind. Ebenfalls im Unterschied zu Polen, wo der Regionalismus eine vorwiegend sozioökonomische Dimension besitzt, ist der Regionalismus der Ukraine über die sozioökonomischen Unterschiede hinaus stark in substanziellen kulturellen Differenzen begründet; diese Konfliktlinien kamen politisch deutlich in den aufeinander folgenden landesweiten Wahlen zum Ausdruck, bei denen die Sympathien der Wähler konstant weniger ideologischen als kulturellen Trennlinien folgten. Da eine starke nationale Identität fehlt, regionale Identitäten dagegen relativ stark sind, war es ein gefährliches Unterfangen, Reformen zur Dezentralisierung des Landes voranzutreiben, obwohl es ursprünglich die Absicht gab, das sowjetische Erbe des stark zentralisierten Verwaltungssystems schnell zu reformieren.[4]

 

Das erklärt weitgehend, warum alle ukrainischen Regierungen so zögerten, das enorm ineffiziente, hyperzentralisierte sowjetische System zu verändern. Die Nationaldemokraten, die hauptsächlich in der Opposition waren, drängten nicht zu sehr auf die Verwaltungsreform, weil sie ahnten, dass in Ermangelung funktionierender Institutionen und tragfähiger kultureller Bindungen jede Übertragung zentraler Macht auf die Regionen die laufende Staatsbildung gefährden konnte. Zu leicht hätten einige Regionen die Beute des habgierigen Nachbarn oder lokaler Machtfürsten oder beider werden können. Föderalismus galt als eine besondere Gefahr. Wer sie befürwortete, wurde des „Staatsverrats“ bezichtigt oder gar als „Föderast“ diffamiert.[5]

Die regierenden Postkommunisten aus der Partei der Regionen standen rhetorisch dem Föderalismus ambivalent gegenüber, in erster Linie, weil ihrer Wählerschaft im Südosten diese Idee weniger fremd war. Vor Wahlen flirteten sie gar mit der Idee, versuchten aber aus offensichtlichem Grund nie, eine derartige Föderalisierung umzusetzen. Denn es entspricht nicht der Natur eines autoritären Regimes, Macht abzugeben. Denn das würde die Eliten des Regimes zwangsläufig ihre Möglichkeiten einschränken, sich widerrechtlich und unkontrolliert finanzielle und administrative Ressourcen anzueignen.[6] Im Ergebnis blieb der Föderalisierungsgedanke in der Ukraine zwei Jahrzehnte lang vor allem eine Trumpfkarte für unzufriedene lokale Eliten, die sie in Verhandlungen mit dem Zentrum in Kiew ausspielen konnten, um ein paar persönliche Vorteile und Konzessionen zu erreichen.

Der Orangen Regierung (2005–2009) war immerhin die Notwendigkeit einer Dezentralisierung klar, und sie schlug kurz nach ihrem Amtsantritt eine grundlegende Verwaltungsreform vor. Ziel war es, die öffentlichen Mittel effizienter zu verwenden und die Qualität des Öffentlichen Dienstes zu erhöhen. Ein paar Monate später fiel jedoch auch dieses Projekt den selbstmörderischen Machtkämpfen im orangen Lager zum Opfer, wodurch alle so dringend erforderlichen Reformen um mindestens ein weiteres Jahrzehnt hinausgeschoben wurden.

Heute liefert die Realpolitik den Befürwortern einer Föderalisierung ein mächtiges Argument. Die Lage erinnert daran, dass man sich nachts auf der Straße auch nicht weigert, einem Fremden, der einen bedroht, einen Ziegelstein abzukaufen. Einerseits scheint Föderalisierung tatsächlich eine Hauptforderung der prorussischen Kämpfer zu sein, die über ein Dutzend ostukrainischer Städte kontrollieren. Andererseits verstärkt die offene Drohung ihrer Moskauer Schutzherren, in der Ukraine militärisch zu intervenieren, diese Forderung erheblich. In einer solchen Situation, in der sie nur verlieren kann, hat die ukrainische Regierung womöglich kaum eine andere Wahl, als einen schlechten Frieden zu akzeptieren, anstelle eines guten Krieges, den sie gegen Russland ohnehin nicht gewinnen kann.

Es gibt jedoch noch zwei ernsthafte Hindernisse bei der Verwirklichung der Idee. Zum einen ist der Begriff der Föderalisierung in der ukrainischen Gesellschaft höchst unpopulär und wird nicht nur als Kapitulation vor dem Druck von außen, sondern in hohem Maße als Verrat an der Majdan-Revolution und der nationalen Sache insgesamt empfunden. Bemerkenswerterweise sind es nicht nur eiserne ukrainische Nationalisten, die den Gedanken ablehnen, sondern die überwiegende Bevölkerung. Das zeigen Meinungsumfragen deutlich.[7] Im Gegensatz zu dem, was russische und pro-russische Politiker behaupten, erhält der Gedanke der Föderalisierung nur von 26 Prozent der Befragten im Osten der Ukraine und 22 Prozent im Süden (ohne die Krim) Zustimmung, während er im Westen und im Zentrum von mageren drei beziehungsweise sieben Prozent unterstützt wird.

Erwartungsgemäß ist die höchste Zustimmung in den Regionen Donec’k (38 Prozent) und Luhans’k (42 Prozent) zu verzeichnen– aber selbst hier haben die Anhänger einer Föderalisierung keine absolute Mehrheit der Bevölkerung.[8] Dieselbe Umfrage, die zwischen dem 10. und 15. April durchgeführt wurde, zeigt, dass 19 Prozent der Befragten im Südosten (darunter zwölf Prozent im Donbass) den status quo unterstützen, während 45 Prozent (darunter 41 Prozent in Donec’k und 34 Prozent in Luhans’k) sich für einen Einheitsstaat mit gewisser Dezentralisierung und mehr Machtbefugnissen für die Regionen aussprechen. Trotz des beispiellosen russischen militärischen, ökonomischen und propagandistischen Drucks bezeichnen lediglich zwölf Prozent der Befragten im Südosten die Föderalisierung des Landes als einen wichtigen Schritt, der von der Regierung unternommen werden sollte, um die nationale Einheit zu sichern. Sehr viel mehr, nämlich 38 Prozent, nennen vorrangig die Notwendigkeit einer Entwaffnung und Auflösung der verschiedenen Paramilitärs, und 22 Prozent erwarten von der Regierung, dass sie der Region im Südosten eine klare ökonomische Perspektive bietet.

Der zweite Grund, der den Gedanken der Föderalisierung der Ukraine wenig aussichtsreich erscheinen lässt, ist die verbreitete Erkenntnis, dass, was auch immer die ukrainische Regierung tut, um den Kreml und seine Gefolgsleute in den ukrainischen Regionen zu beschwichtigen, diese nie zufrieden sein werden. Ivan Krastev hat es auf den Punkt gebracht:

Russland stellt sich vor, dass die Ukraine etwas Ähnliches wie Bosnien wird – ein radikal föderalisiertes Land, zusammengesetzt aus politischen Einheiten, die jede an ihren eigenen ökonomischen, kulturellen und geopolitischen Präferenzen festhält. Mit anderen Worten, während die territoriale Integrität der Ukraine technisch erhalten bliebe, würde der östliche Teil des Landes enger mit Russland als mit dem Rest der Ukraine verbunden sein, ähnlich den Beziehungen zwischen der bosnischen Republika Srpska und Serbien. Das schafft ein Dilemma für Europa. Während eine radikale Föderalisierung es der Ukraine erlauben könnte, durch die aktuelle Krise hindurch intakt zu bleiben, würde sie das Land höchstwahrscheinlich auf längere Sicht zu Zerfall und Scheitern verurteilen. Wie die Erfahrung in Jugoslawien gezeigt hat, funktioniert radikale Dezentralisierung in der Theorie, aber nicht immer in der Praxis.[9]

Russische Offizielle lassen wenig Zweifel daran, was für eine Art von „Föderalisierung“ sie für die Ukraine im Sinn haben. So fordert der Putin-Berater Sergej Glaz’ev:

In einem rigiden Einheitsstaat wird eine dauerhafte Konfrontation bestehen bleiben. Um sie zu beenden, bedarf es der Föderalisierung. Man muss den Regionen genügend Rechte geben, ihnen die Kompetenz einräumen, ihren Haushalt selbst zu erstellen und sogar die Möglichkeit, über ihre Außenpolitik teilweise selbst zu bestimmen. Weltweit gibt es, auch wenn das völkerrechtlich merkwürdig erscheinen mag, derartige Fälle, dass innerhalb eines Landes unterschiedliche Handels- und Wirtschaftsordnungen in Kraft sind. Grönland zum Beispiel gehört zu Dänemark. Dänemark ist Teil der Europäischen Union, Grönland nicht. Also ist das ein vernünftiger Vorschlag für die Ukraine.[10]

 

Kremlnahe Personen äußern sich noch unverhüllter. So hatte der Ex-Journalist und frischgebackene Politaktivist Maksim Kalašnikov[11] bereits im Januar 2014, also einen Monat vor Janukovyčs Sturz und dem späteren Einmarsch auf der Krim sowie den Aktivitäten im Donbass, die Politik des Kreml gegenüber der Ukraine mit einer verblüffenden Präzision skizziert:

Vor einem Bürgerkrieg kann man die Ukraine nur durch die rasche Teilung (als Föderalisierung etikettiert) bewahren. [. . .] Was soll Janukovič tun? Wozu soll man ihn zwingen? Erstens, dass er ein Referendum über zwei Fragen ankündigt: über den Beitritt der Ukraine zum Assoziierungsabkommen mit der EU und eine Föderalisierung der Ukraine; über die Schaffung von vier Republiken: Doneck-Novorossija (einschließlich der autonomen Krim), Zentralukraine, Westukraine und die Karpatenukraine. . . Moskau muss diesen Prozess mit Informationen, Finanzen und, sagen wir, speziellen Mitteln unterstützen. Donbass und Novorossija, das sind im Wesentlichen Russen, unser Volk, und wir haben die Pflicht, es zu schützen. Im Donbass und in Novorossija (der Krim und dem Schwarzmeergebiet) müssen (nach dem Muster von 1990–1992 in Transnistrien) bewaffnete Selbstverteidigungskommandos geschaffen werden. Man muss mit einer „Privatisierung“ der dort stationierten Truppen des Innenministeriums und der ukrainischen Streitkräfte beginnen. [. . .] Freiwillige aus der örtlichen Bevölkerung müssen die freigewordenen Plätze besetzen. Moskau muss in aller Stille diese Einheiten mit Waffen und Munition versehen. Die Aufgabe dieser Einheiten besteht darin, die Brücken über den Dnepr und gefährliche Landabschnitte nördlich der Gebiete Odessa, Nikolaev und Dnepropetrovsk abzudecken . . . Um möglichst lange die Regierungsgebäude in Kiew zu halten, müssen bewaffnete Freiwillige aus Donbass und Novorossija dorthin gebracht werden. Unter ihnen lassen sich leicht Militärausbilder und Kämpfer (Freiwillige) aus der Russländischen Föderation verbergen. Solche Freiwilligen zu mobilisieren, ist eine organisatorische Frage . . . Dazu muss man jetzt die Geldsäcke im Donbass zur Ordnung rufen, einschüchtern und dazu bringen, den Beutel aufzumachen; Janukovič (in persönlichen Gesprächen) Zuflucht in der Russländischen Föderation und vollständigen Schutz garantieren; unter Einsatz von Fernsehen, Radio und Internet der Russländischen Föderation aufbauschen, dass es um den Schutz der russischen und prorussischen Bevölkerung des Donbass und Novorossija vor dem Angriff der brutalen, wildgewordenen Bandera-Anhänger, vor Chaos und Gewalt geht. Mit den lokalen Oligarchen und Janukovič befassen wir uns anschließend. . . Die Durchführung des Referendums (selbst wenn es nur im Donbass und Novorossija, im Südosten, stattfindet), wird alle gesetzlichen Grundlagen für ihre Loslösung und die Verlagerung des Machtzentrums von Kiew nach Char’kov schaffen.[12]

Was im Januar wie die irre Phantasie eines radikalen Nationalisten aussah, ist zwei Monate später weitgehend der Kern von Putins Realpolitik geworden. Auch wenn Viktor Janukovyč durch seinen frühzeitigen Abgang den Plan teilweise verzerrt hat, wird die neue Regierung in Kiew immer noch mit allen Mitteln gezwungen, die Zerstückelung des Landes, „als Föderalisierung etikettiert“, zu akzeptieren – wie Maksim Kalašnikov es freimütig ausgedrückt hat. Kiew wird das kaum akzeptieren und eher für die Idee einer dringend nötigen Dezentralisierung werben, die im Grunde mit dem von der EU unterstützten Subsidiaritätsprinzip übereinstimmt. Der einzig legitime Weg, dies zu erreichen, ist, Präsidentschafts- und später Parlaments- und Kommunalwahlen abzuhalten, und dann die Aufteilung von Macht und Verantwortung zwischen dem Zentrum und den Regionen auf der Ebene sowohl nationaler als auch regionaler Legislativen zu verhandeln.

Kiew widersetzt sich in dieser Frage eisern (und verständlicherweise) jedem Gespräch mit Russland und den prorussischen Kämpfern, welche die Regierungsgebäude im Südosten eingenommen haben, auch wenn dies genau das ist, was Moskau möchte und mit allen möglichen Mitteln vorantreibt, weil es hier zurecht den einzigen Weg sieht, Kiew seine „Föderalisierungs“-Agenda aufzudrängen. Der Kreml ist sich bewusst, dass jeder normale Wahlvorgang in der Ukraine in einer Niederlage der radikalen prorussischen Kräfte resultieren würde, und tut deshalb, was er kann, um jede Normalisierung zu sabotieren und zum Scheitern zu bringen.

Nach den Ergebnissen der genannten Meinungsumfrage, die im April 2014 in acht südöstlichen Regionen, also in Putins vermeintlichem „Novorossija“, durchgeführt wurde, waren nur zwölf Prozent für oder „eher für“ eine Übernahme von Regierungsgebäuden in ihrer Region durch Bewaffnete, während 77 Prozent sich dagegen aussprachen.[13] Und nur 15 Prozent waren für eine hypothetische Abspaltung ihrer Region und den Anschluss an Russland, aber 70 Prozent votierten dagegen; 32 Prozent fanden eine russländische Einmischung in ukrainische Angelegenheiten legitim, aber 54 Prozent waren damit nicht einverstanden; zwölf Prozent waren für einen möglichen Einmarsch der russländischen Armee in die Ukraine, 74 Prozent waren dagegen; im Falle eines solchen Einmarschs würden sieben Prozent russländische Truppen begrüßen und zwei Prozent sich ihnen eventuell anschließen, aber 47 Prozent würden eher zu Hause bleiben, während 21 Prozent ihren Willen bekundeten, die Russen mit Waffen zu bekämpfen.

Schaut man sich die Daten genauer an, stechen signifikante Unterschiede zwischen den Regionen ins Auge, die traditionell unter dem Etikett „Südosten“ zusammengefasst werden. Auf einem Kontinuum steht das Gebiet Donbass dem prorussischen oder sowjetophilen, panslawischen, antiwestlichen und gegen Kiew gerichteten Pol am nächsten, während Tavrija (die Gebiete Cherson und Mykolaïv) neben Zaporižžja und Dnipropetrovs’k den entgegengesetzten Pol repräsentieren. Hier sind Haltungen verbreitet, die der moderaten Zentralukraine viel näher sind als dem vielzitierten „Südosten“. Zum Beispiel sind in diesen vier Gebieten nur drei bis neun Prozent der Befragten für die Übernahme von Regierungsgebäuden durch Bewaffnete, während in Luhans’k und Donec’k die Zustimmung 24 Prozent bzw. 18 Prozent erreicht. Eine Abspaltung wird in den vier zentralsüdlichen Gebieten plus Odessa nur von drei bis sieben Prozent befürwortet, während es im Donbass 28 bis 30 Prozent der Befragten sind. Nur zwischen 14 und 20 Prozent der Befragten finden Russlands Einmischung in ukrainische Angelegenheiten legitim, gegenüber 49 Prozent in Donec’k und 41 Prozent in Luhans’k. Nur vier bis sieben Prozent der Befragten in den vier zentralsüdlichen Gebieten plus Odessa sind für einen hypothetischen Einmarsch russländischer Truppen in die Ukraine – gegenüber 19 Prozent im Donbass. Nur zwei bis fünf Prozent der Befragten in den zentralsüdlichen Regionen würden russländische Truppen begrüßen, während zwischen 26 und 37 Prozent sie mit Waffen würden bekämpfen wollen. Im Gegensatz dazu ist der Donbass die einzige Region, in der die Zahl der Befragten, welche die russländische Armee begrüßen würden (14 bis 16 Prozent), höher ist als die Zahl jener, die beabsichtigen, sie zu bekämpfen (elf bis zwölf Prozent).

Das Gebiet Charkiv und, in manchen Fällen, Odessa befinden sich zwischen diesen Polen. Das eine kann als im Grunde proukrainisch und, in unterschiedlichem Ausmaß, proeuropäisch definiert werden. Das andere ist großteils sowjetisch, teilweise pro-russisch, aber zuerst und vor allem verwirrt und zwiespältig. In beiden Fällen ist die Unterstützung für einen russländischen Einmarsch und/oder den Anschluss an Russland halbherzig und hat nirgends, auch nicht im Donbass, eine echte oder auch nur annähernde Mehrheit in der Bevölkerung. Das erklärt in weiten Teilen Putins Scheitern, in all diesen Regionen den „Volksaufstand“ gegen die „faschistische ukrainische Regierung“ anzuzetteln.

In Russlands Medien wurden diese Regionen allzu lange als genuin russische dargestellt, deren Bevölkerung von nichts anderem träume als von einer Wiedervereinigung mit Mutter Russland. Es ist schwierig einzuschätzen, in welchem Maße Putin und seine Entourage Opfer der eigenen Propaganda geworden sind. Aber auf alle Fälle sind sie wie die meisten Russen durch den alten russischen Mythos in die Irre geleitet worden, der besagt, dass die Ukrainer „beinahe dasselbe Volk“ wie die Russen seien – vor allem dann, wenn es sich um Ukrainer handelt, deren Erstsprache Russisch ist. Vermutlich haben zig Berater Putin davon zu überzeugen versucht, dass „Novorossija“ reif ist. Die kritische Moskauer Journalistin Julija Latynina spottet völlig zurecht, dass diese Leute wohl dachten:

Hier brauchst du nur ein Streichholz reinzuwerfen und es brennt. Aber sie haben das Streichholz geworfen, und es fängt nicht an zu brennen. Es zischt und qualmt, aber es fängt nicht an zu brennen.[14]

Es hat sich gezeigt, dass ein paar Dutzend Söldner und russische Militärausbilder ein paar hundert lokale Enthusiasten mit ideologischer oder krimineller Energie mobilisieren können, Regierungsgebäude in ein paar Städten und selbst Großstädten des Donbass zu besetzen. Aber das ist immer noch weit entfernt von einer Revolution oder einem Volksaufstand. Die meisten Menschen im Donbass warten einfach ab. Sie sind bereit, den Gewinner zu akzeptieren, wer immer das ist, solange er ein wenig Stabilität und Hoffnung auf ein besseres Leben bringt. Es ist ziemlich deutlich, dass ohne Russlands reguläre Truppen keine Übernahme des Südostens durch russisch bewaffnete Paramilitärs möglich ist. Selbst im Donbass wird das zunehmend problematisch. Die örtliche Bevölkerung hat das Durcheinander satt und wendet ihren Ärger von den mythischen „Faschisten“ in Kiew ab und richtet ihn auf die sehr realen Machtfürsten vor Ort.

Die ukrainische Regierung könnte eine gewisse Unterstützung unter den lokalen Eliten gewinnen, wenn sie ihnen ein umfassendes Reformpaket aus Dezentralisierung und mehr Selbstbestimmung anbietet. Sie mag auch die Paramilitärs in ihren Nestern in Schach halten und später eliminieren, wenn es ihr gelingt, die veraltete postsowjetische Armee, Polizei und Sicherheitsdienste radikal zu reformieren und eine echte, zuverlässige Kontrolle an der Grenze zu Russland aufzubauen.

Dennoch wird die Aussöhnung zwischen den „beiden Ukrainen“ selbst im besten Fall nicht einfach. Es ist dies der Konflikt zwischen der prowestlichen und der antiwestlichen Ukraine, der sowjetophilen und antisowjetischen sowie der paternalistischen oder der staatsbürgerlichen. Letztere ist gerade mit dem blanken Überleben beschäftigt. Vitalij Nachmanovyč, ein ukrainischer Historiker und jüdisch-ukrainischer Aktivist, legt dar, dass die Aussöhnung kaum möglich ist, weil die grundlegenden Werte beider Gruppen unvereinbar sind und auf die Schnelle nicht zu ändern sind. Stattdessen sollten ukrainische Politiker über Ausgleich und Entgegenkommen nachdenken. Das kann möglich werden, wenn es einer Gruppe gelingt, der anderen Gruppe eine gewisse Autonomie mit der nötigen Achtung vor deren Werten zu garantieren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine autoritäre Ukraine demokratisch gesinnten, europäisch orientierten Bürgern eine solche Autonomie bieten kann. Aber es ist gut möglich, dass eine demokratische Ukraine einen Weg finden würde, ihren paternalistisch, sowjetophil und russisch orientierten Landsleuten Rechnung zu tragen.[15] Das haben Lettland und Estland für ihre sowjetophil, panslawisch gesinnten Mitbürger recht erfolgreich getan.

Auf alle Fälle ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Kreml seine subversiven Aktivitäten einstellen wird. Mit einem riesigen Netz von Agenten in allen ukrainischen Institutionen und signifikanter Unterstützung des russo- oder sowjetophilen Teils der Bevölkerung kann Moskau ukrainische Reformen und eine erfolgreiche Europäisierung selbst ohne direkten militärischen Einmarsch zum Scheitern bringen. Auch wenn der Einmarsch nicht ausgeschlossen werden kann, ist er im Augenblick wegen seiner sehr hohen internen und internationalen Kosten und recht fragwürdigen Gewinne eher unwahrscheinlich. Russland kann leicht den Donbass einnehmen, doch hat es wenig symbolischen Wert und sogar noch weniger praktischen – mit all seiner veralteten Industrie aus dem 19. Jahrhundert. Tatsächlich ist Putins Hauptproblem nicht eine unabhängige Ukraine per se, sondern eine erfolgreich modernisierte, demokratische und europäische Ukraine, in der Millionen Russen und russischsprechende Ukrainer („Beinahe-Russen“, in Putins Sprachgebrauch) viel mehr Freiheit und bürgerliche Rechte genössen als ihre Brüder in Russland. Das könnte ein tödlicher Schlag für den Putinismus als System werden, das auf dem megalomanen Anspruch panslawischer Einzigartigkeit und einer paranoiden antiwestlichen Haltung beruht.[16]

Daher dürfte der Kreml vermutlich alle Arten von Druck und Provokation fortsetzen, um die Ukraine in einer Schwebe von „weder Frieden noch Krieg“ zu halten, jegliche ernsthaften internationalen Investitionen im Land zu verhindern und zu beweisen, dass die Ukraine ein gescheiterter Staat ist – im Sinne einer self-fulfilling prophecy, wie es Moskau seit Jahren behauptet. Dies ist eine gewaltige Herausforderung für die ukrainische Elite und die gesamte Bevölkerung, aber auch ein großer Stimulus und vielleicht die letzte Gelegenheit, es endlich zu staatsbürgerlicher Reife, nationaler Konsolidierung und den dringend nötigen institutionellen Reformen zu bringen.

Aus dem Englischen und Russischen von Sabine Grebing, Linthal, Haut-Rhin

 


[1]   <http://hvylya.org/analytics/federalizatsiya-ukrayini-fakti-ta-mifi.html>.

[2]   Vjačeslav Čornovil: Мoja viborča programa, in: Polіtyka, 1/1989, S. 2–3.

[3]   Spil’na identyčnist’ gromadjan Ukrajiny: osoblyvosti і problemy stanovlennja, in: Nacyonal’na bezpeka i oborona, 7/2006, S. 12.

[4]   Hennadij Poberežnyj: Decentralizacija jak zasib vid separatyzmu, in: Krytyka, 11/2006, S. 3–7, <http://krytyka.com/ua/articles/detsentralizatsiya-yak-zasib-vid-separatyzmu>.

[5]   <www.day.kiev.ua/uk/blog/politika/davayte-ne-perebilshuvati-rizikiv-federalizaciyi>.

[6]   Poberežnyj, Decentralizacija [Fn. 4].

[7]   <www.iri.org/sites/default/files/2014%20April%205%20IRI%20Public%20Opinion %20Survey%20of%20Ukraine%2C%20March%2014-26%2C%202014.pdf >.

[8]   Mnenija i vzgljady žitelej jugo vostoka Ukrainy. Aprel 2014, <http://zn.ua/UKRAINE/ mneniya-i-vzglyady-zhiteley-yugo-vostoka-ukrainy-aprel-2014 -143598_.html >.

[9]   Ivan Krastev: Putin’s World, 1.4.2014,

    <www.iwm.at/read-listen-watch/transit-online/ putins-world/>.

[10]  Sergej Glaz’ev: Federalizacija – uže ne ideja, a očevidnaja neobchodimost’, in: Kommersant” Ukraina, 6.2.2014, <www.kommersant.ua/doc/2400532>.

[11]  <http://ru.wikipedia.org/wiki/Максим_Калашников >.

[12]  <http://m-kalashnikov.livejournal.com/1708101.html>.

[13]  Mnenija i vzgljady [Fn. 8].

[14]  Julija Latynina: Zametki s polej nevojny, in: Novaja gazeta, 5.5.2014,

    <www.novayagazeta.ru/politics/63439.html >.

[15]  Vitaliy Nachmanovyč: Vidkryte zverennja do lideriv Majdanu, in: Krytyka, Januar 2014,

    <http://krytyka.com/ua/community/blogs/vidkryte-zvernennya-do-lideriv-maydanu>.

[16] Igor Torbakov: Insecurity Drives Putin’s Crimea Response, in: Eurasianet,

    <eurasianet.org/node/68102>.

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