Titelbild Osteuropa 9-11/2019

Aus Osteuropa 9-11/2019

Widerständiger Pragmatismus
Junge russischsprachige Juden in Deutschland

Karen Körber

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Abstract in English

Abstract

Seit den 1990er Jahren sind Hunderttausende Juden nach Deutschland gekommen. Die Kinder von damals sind heute erwachsen. Ihre Integration ist gelungen. Sozioökonomisch sind sie erfolgreicher als die Generation ihrer Eltern. Sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft und bekennen sich zur politischen Ordnung der Bundesrepublik. Sie betrachten sich allerdings nicht umstandslos als Deutsche. Das hat mit ihren Erfahrungen zu tun. Als Migranten sind sie immer wieder Ausgrenzung, Diskriminierung und Antisemitismus begegnet. Fremdzuschreibung und Selbstidentifikation stehen in einem dynamischen Verhältnis und beeinflussen ihre Stellung in der Gesellschaft.

(Osteuropa 9-11/2019, S. 83–90)

Volltext

Seit den 1990er Jahren sind Hunderttausende Juden nach Deutschland gekommen. Die Kinder von damals sind heute erwachsen. Ihre Integration ist gelungen. Sozioökonomisch sind sie erfolgreicher als die Generation ihrer Eltern. Sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft und bekennen sich zur politischen Ordnung der Bundesrepublik. Sie betrachten sich allerdings nicht umstandslos als Deutsche. Das hat mit ihren Erfahrungen zu tun. Als Migranten sind sie immer wieder Ausgrenzung, Diskriminierung und Antisemitismus begegnet. Fremdzuschreibung und Selbstidentifikation stehen in einem dynamischen Verhältnis und beeinflussen ihre Stellung in der Gesellschaft.

Mit der Einwanderung russischsprachiger Juden seit den 1990er Jahren hat sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland von Grund auf verändert. Jüdisches Leben weist mittlerweile wieder eine wachsende religiöse Vielfalt auf, es gibt jüdische Schulen und Kindergärten sowie zahlreiche jüdische Organisationen und Vereinigungen. Dieser Wandel hat viele Ursachen. Blickt man auf die demographische Entwicklung, so sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache. Die jüdischen Gemeinden in Westdeutschland hatten Ende der 1980er Jahre knapp 30 000 Mitglieder, in der DDR gehörten noch 380 Personen einer Gemeinde an. Gegenwärtig zählen die jüdischen Gemeinden rund 100 000 Mitglieder, hinzu kommen zahlreiche eingewanderte Juden, die sich keiner Gemeinde angeschlossen haben. Die große Mehrzahl der in Deutschland lebenden Juden stammt aus der Sowjetunion und den postsowjetischen Staaten.[1]

Von besonderem Interesse sind im Folgenden jene Menschen, die in den 1990er Jahren einwanderten, als sie noch Kinder waren. Sie sind es, für die ihre Eltern den Schritt in die Emigration gewagt haben. Aus den Kindern von damals sind junge Erwachsene geworden, die wir in einer Studie danach befragt haben, wie sie in der deutschen Einwanderungsgesellschaft angekommen und aufgewachsen sind und ob sie sich Deutschland zugehörig fühlen.[2]

Auf den ersten Blick sprechen die Ergebnisse der Untersuchung eine eindeutige Sprache. Knapp die Hälfte der Teilnehmenden ist erwerbstätig, ein fast ebenso hoher Anteil studiert noch, nur sehr wenige Personen sind erwerbslos.[3] Die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt mag auf die hohen Bildungsabschlüsse zurückzuführen sein. 95 Prozent der Befragten haben einen gymnasialen Abschluss, 80 Prozent einen ersten Hochschul- oder einen Fachhochschulabschluss. Im Vergleich mit ihren Eltern, von denen rund 50 Prozent nach der Einwanderung lange arbeitslos und gut zwei Drittel dauerhaft unterhalb ihrer Qualifikation beschäftigt waren, sieht sich die zweite Generation klar als Aufsteiger.[4] Diesem Befund scheinen auch die Aussagen zu entsprechen, wonach die Mehrheit unserer Befragten sich sowohl mit Israel als auch mit Europa stark verbunden fühlen. Nahezu alle Befragten sind der Meinung, „Juden leben heute genauso gerne in den USA oder in Europa wie in Israel“. Ebenfalls rund sechzig Prozent stimmen der Aussage zu: „Israel ist eine symbolische Heimat, aber ich möchte dort nicht leben.“[5]

Dieser Umstand führt einerseits dazu, dass die jungen Erwachsenen selbstverständlich den Anspruch artikulieren, sich hier eine Zukunft aufzubauen. Andererseits berichten zwei Drittel der Befragten, als russischsprachige Juden von Diskriminierungen und Antisemitismus betroffen zu sein. Rund die Hälfte führt ihren Migrationshintergrund als ausschlaggebend an, knapp über vierzig Prozent sind mit Antisemitismus konfrontiert worden, knapp dreißig Prozent geben an, doppelte Diskriminierungen erlebt zu haben.[6]

Unsere Interviews geben Aufschluss darüber, wie die jungen russischsprachigen Jüdinnen und Juden ihre widersprüchlichen Erfahrungen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft ausloten. Sie berichten, wie es ist, in Deutschland aufzuwachsen, schildern ihre Bindungen an ihr russischsprachiges und jüdisches Herkunftsmilieu, das die eigene soziale Identität prägt, aber auch Anlass für Diskriminierungen bietet. Ihre Aussagen weisen darauf hin, dass die Befragten dieser Differenz zwischen eigener Identifikation und Fremdzuschreibung begegnen, indem sie eine Position für sich in Anspruch nehmen, die auf der deutschen Staatsbürgerschaft besteht, eine nationale Zugehörigkeit jedoch zurückweist.


Deutschland, ein Einwanderungsland

"Also ich kann mir sehr wohl vorstellen, hier meine Familie zu gründen und hier zu arbeiten und hier mein Leben zu verbringen. Allerdings würde ich jetzt niemals sagen, auf die Frage, ja, welcher Nationalität ich bin, ich bin deutsch. Also, ich habe einen deutschen Pass und ich lebe in Deutschland. Ich halte mich an das deutsche Grundgesetz und so weiter und so fort, aber ich fühle mich jetzt darüber hinaus nicht in irgendeiner Weise deutsch."[7]

"Ja, ich habe die deutsche Staatsangehörigkeit, weil das mein Land ist und ich ein Teil davon sein möchte, auch, zum Beispiel, um politisch mitbestimmen zu können. Weil sonst hätte ich es gar nicht gemacht, denn ich hatte eine Daueraufenthaltsgenehmigung mit allen Rechten, das heißt eine Arbeitserlaubnis. Ich als Informatiker, ich brauche diese deutsche Staatsangehörigkeit gar nicht. Ich hätte genauso gut hier so leben können. Ich habe es gemacht, weil ich das wollte."[8]

"Ich fühle mich schon heimisch und ich bin froh, also gerade jetzt mit der Wirtschaftskrise, ausgerechnet in Deutschland zu sein und nicht irgendwo anders. Ich habe hier meine Arbeit, ich habe meine Ausbildung hier gemacht. Ich bin deutsche Staatsbürgerin, definitiv, weil mir die Demokratie wichtig ist und weil es eine Verantwortung gegenüber dem Land gibt, das schon. Aber kulturell gesehen natürlich nicht, weil meine Wurzeln ja nicht aus Deutschland kommen und ich nicht diese Geschichte teile, die die Deutschen haben. Das kann man ja so dann nicht sagen, dass ich deutsch bin."[9]

Diese Stimmen repräsentieren einen Querschnitt unserer Interviews. Unsere Gesprächspartner und -partnerinnen sprechen selbstverständlich davon, in Deutschland zu leben und sich eine Zukunft aufbauen zu wollen und betonen die Bedeutung der deutschen Staatsbürgerschaft, die als Möglichkeit der politischen Partizipation, Verantwortung und Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen verstanden wird, dem sie angehören. Ebenso deutlich, wie sie sich zur deutschen Staatsbürgerschaft bekennen, verneinen sie die Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Sie empfinden Deutschland als Ort der Sicherheit und Stabilität, der die Planbarkeit des eigenen Lebens erlaubt, wenn es etwa darum geht, eine Familie zu gründen, eine Ausbildung zu machen und einen Arbeitsplatz zu bekommen. Es handelt sich also um eine pragmatische Zustimmung zu Deutschland, die von Faktoren abhängig ist, die für das Gelingen der eigenen Lebensführung von Be­lang sind: die Möglichkeit, individuelle Lebenschancen in einer sozial und ökonomisch stabilen Situation wahrnehmen und diese höchstwahrscheinlich auch verwirklichen zu können.[10] Allerdings beschränkt sich die Wahrnehmung nicht allein auf die subjektive Verwirklichung von Chancen, sondern verbindet sich, in der Institution der Staatsbürgerschaft, auch mit dem Anspruch auf Teilhabe am demokratischen Gemeinwesen, das die Befragten als Bürgerinnen und Bürger gestalten wollen.

Diese Selbstverortung beruht auf der familiären Erfahrung, aus einer Region zu kommen, in der die Lebensverhältnisse deutlich schwieriger waren als in Deutschland. Die Gruppe der Befragten ist sich bewusst, dass ihnen ein sozialer Aufstieg gelungen ist, der ihren Eltern versagt war. Deren migrationsbedingte Abstiegserfahrung, die von der Entwertung von Bildungsabschlüssen, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunterbrechungen und unterqualifizierten Beschäftigungen gekennzeichnet war, können die jungen Erwachsenen nun ihrer Wahrnehmung nach wettmachen. Sie schätzen ihre soziale Lage als erheblich besser ein als die ihrer Eltern.

Positionierungen

Auch wenn sich unsere Gesprächspartnerinnen und -partner dafür entschieden haben, als Juden in Deutschland zu leben, ändert das nichts daran, dass sie der Option, „Deutsche“ zu sein, eine klare Absage erteilen. Ihre Einlassungen zu Deutschland beschließen sie übereinstimmend mit der Aussage: „Aber ich bin nicht Deutsch“ oder: „Ich bin keine Deutsche“. Dieser Kommentar markiert eine Grenze und führt eine klare Unterscheidung ein. In Anlehnung an den britischen Kulturwissenschaftler Stuart Hall lassen sich die Äußerungen der jungen Jüdinnen und Juden auch als „Positionierungen“ verstehen, als Versuch, auf Brüche und die Besonderheit der eigenen Geschichte aufmerksam zu machen, sowie darauf, dass die eigene Position sich aus einem dynamischen Wechselspiel von Fremdzuschreibung und Selbstidentifikation ergibt.[11]

In diesen Selbstpositionierungen kommen Erfahrungen in der existierenden symbolischen Ordnung der deutschen Einwanderungsgesellschaft zur Geltung, die gekennzeichnet ist durch Inklusion und Exklusion, verschiedene Formen der Diskriminierung sowie durch eine Hierarchie der Herkunft, auf die junge Jüdinnen und Juden in ihrem Bemühen um soziale Anerkennung Bezug nehmen. Als russischsprachige Juden werden sie sowohl als Migranten, genauer „als Russen“, als auch als Juden kategorisiert und diskriminiert. Unsere Gesprächspartnerinnen und -partner berichten von diesen verschiedenen Gruppenzuordnungen und den damit verbundenen Formen der Diskriminierung und Stigmatisierung, die in der Regel nicht gleichzeitig verlaufen und nicht dieselben Folgen zeitigen. Sie schildern entsprechende Ausgrenzungserfahrungen durch die Mehrheitsgesellschaft, machen aber auch Versuche kenntlich, die symbolischen Grenzen der jeweiligen Gruppe zu modifizieren, indem sie die Merkmale der Gruppenzuordnung und deren Bedeutungsinhalte verändern. Dies geschieht beispielsweise, wenn sie die russische oder die jüdische Herkunft verschweigen oder umgekehrt, eine der beiden Herkünfte entschieden und offensiv betonen. Daran wird sichtbar, dass die jungen Erwachsenen den Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft nicht passiv ausgesetzt sind, sondern auch aktiv „Grenzarbeit“[12] betreiben, indem sie versuchen, die verschiedenen sozialen Kategorien, die sie betreffen, zu beeinflussen und umzuwandeln.


Aufwachsen in Deutschland

Aufwachsen in Deutschland bedeutet für unsere Befragten, einem migrantischen Herkunftsmilieu anzugehören, das durch die besondere Struktur dieser Einwanderung gekennzeichnet ist. Das gesonderte Aufnahmeverfahren für jüdische Kontingentflüchtlinge, das jenen, die eine jüdische Herkunft nachweisen konnten, sowie ihren (auch nichtjüdischen) Familienangehörigen die Einreise gewährt hatte, führte zu einer Familienmigration, die bis zu drei Generationen umfassen konnte. Neben der Kernfamilie gehörten häufig auch die nahe Verwandtschaft, also die Geschwisterfamilien der Elterngeneration zu der jeweiligen Einwanderungsgruppe.

Frühzeitig lernen die russischsprachigen Jüdinnen und Juden, dass sie mit einer solchen migrationsgebundenen kulturellen Zugehörigkeit nicht allein sind. Mit ihren Familien ziehen sie aus den zentralen Aufnahmeheimen meist in Wohnviertel mit erschwinglichen Mieten oder in Gebiete mit sozialem Wohnungsbau, wo ein hoher Anteil migrantischer Bevölkerung lebt. Auf der Straße, in der Schule, an der Universität, im Freundes- und Familienkreis begegnen sie anderen Menschen, die ebenfalls nicht (nur) aus Deutschland stammen.

In den Interviews schildern sie, wie sich ihr Alltag und die Erfahrung gesellschaftlicher Vielfalt auch in der Wahl und Zusammensetzung des Freundeskreises niederschlägt:

"Ich hatte meine Mädels aus der Klasse, das waren deutschsprachige Mädels mit verschiedensten Hintergründen: kroatisch, polnisch, alles Mögliche. Und jetzt ist mein Freundeskreis sehr, sehr bunt gemischt. Das ist für mich alles deutsche Gesellschaft. Also, das ist auch schwierig zu definieren, was ist Deutschland?"[13]

"Ich bin immer multikulturell aufgewachsen. In Deutschland geht das auch nicht anders. Ich habe auch türkische Freunde und polnische Freunde und deutsche Freunde und alles gemischt."[14]

Diese Aussagen spiegeln den Alltag eines Einwanderungslandes. Doch zu dieser Realität gehören nicht nur die Erfahrungen mit Vielfalt, sondern auch Diskriminierung, soziale Abgrenzung und Ausgrenzung und Antisemitismus.

Zu den ersten und einschneidenden Erfahrungen, die die jungen russischsprachigen Juden mit ihrem Grenzübertritt machen, gehört der Einstieg in das deutsche Bildungssystem. Insbesondere jene, die aufgrund ihres Alters sofort eine weiterführende Schule besuchen mussten, machten besondere Erfahrungen mit der „Beschulung“ von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Je nach Bundesland erlebten sie den Besuch der Hauptschule, einer „Integrationsklasse“ oder einer „Förderklasse“:

"Ich würde nicht sagen, dass die Integration so nahtlos funktioniert hat, weil es ja in dem wunderbaren deutschen Bildungssystem so war, dass alle, die nicht Deutsch sind, erst mal in die Hauptschule müssen, ohne dass jetzt irgendwie geschaut wird, welches Niveau das Kind hat und wo es eigentlich eingestuft werden soll. Und ich war dann halt für ein halbes Jahr auf einer Hauptschule und das war dann, naja. Ich war da schon so ein bisschen anders als alle anderen, und das fiel unglaublich doll auf und hat auch die Kinder sehr verärgert, weil die das nicht verstehen konnten, was ich da mache und wieso ich in allen Fächern, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, viel besser bin. Und nach einem halben Jahr konnte ich dann mit Hilfe einer Lehrerin auf ein Gymnasium wechseln."[15]

"Ich war damals fünfzehn Jahre alt und bin dann auch eingeschult worden. Zuerst kam ich in eine Fördergruppe, wo man die Sprache gelernt hat. Alle Kinder hat man damals eigentlich in die Hauptschule geschickt, was nicht so eine gute Idee war, weil die Leute nicht informiert waren über das Schulsystem, und die Hauptschule war ja eigentlich die niedrigste Stufe. Und wenn man jetzt selbst nicht aktiv irgendwas erreichen wollte und sich informiert hat, sich umgehört hat, dann blieb man da halt hängen. Und bei mir war es halt anders, wir haben uns informiert. Und ich habe das bis zur zehnten Klasse gemacht und bin dann aufs Gymnasium gegangen."[16]

"Der Anfang war schwer. Ich wurde in eine Integrationsklasse reingesteckt, wo die Kinder viel jünger waren und einen ganz anderen schulischen Background hatten als ich. Also, das waren alles sozusagen schwierige Kinder, die Probleme in der Schule hatten und einen Migrationshintergrund hatten. Und ich war da, nur weil ich noch kein Deutsch sprechen konnte. Genau. Das waren schmerzhafte Jahre für mich. Und dann habe ich Abitur gemacht. Ich war in der Ukraine in einer Mathematikschule, das war eine sehr gute Schule mit gut situierten Kindern und hier in dieser Schule war ich plötzlich auf einem Niveau gelandet, das vielleicht meinem finanziellen Niveau entsprach, aber nicht dem geistigen sozusagen."[17]

Aus diesen Zitaten spricht die wiederkehrende Erfahrung, sich mit dem Grenzübertritt in einer schulischen Situation wiederzufinden, die unsere Interviewten als problematisch und ungerecht wahrnehmen. Gemeinsam teilen sie den Eindruck, dass sie aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse in eine soziale Gruppe einsortiert werden, deren schulisches Fortkommen oder systematische Förderung kaum vorgesehen ist. Wenn unser Interviewpartner schildert, dass er vielleicht vom „finanziellen Niveau“, nicht aber vom „geistigen“ auf seine Schule gehört habe, so nimmt er auf jene Merkmale der sozialräumlichen Segregation Bezug, die für die Zuweisung in die entsprechende Schule eine maßgebliche Rolle spielten. Als zwölfjähriger Junge mit Migrationshintergrund, der in einem eher einkommensschwachen Stadtteil aufwächst, treffen er und die anderen Befragten mit dem Grenzübertritt auf Mechanismen institutioneller Diskriminierung, mit denen im Bildungswesen ethnische Differenz hergestellt wird und die zum Maßstab von Ungleichverteilung wird.[18] Der überdurchschnittlich hohe Anteil an Abiturabschlüssen unter unseren Befragten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele von ihnen mit den strukturellen Gegebenheiten eines Schulsystems konfrontiert waren, das für sie erst einmal keinen höheren Bildungsabschluss vorsah.

Wie die Interviews zeigen, verlangt es ein hohes Maß an Eigeninitiative – teilweise unterstützt von den Eltern oder einzelnen Lehrkräften –, um nach einem Ausweg aus dem zugewiesenen Bildungsverlauf zu suchen. Die Kinder und Jugendlichen profitieren davon, dass sie aus Elternhäusern stammen, deren Bildungsniveau hoch ist. Dieser Befund gilt für die Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge grundsätzlich.[19] Zudem zeigt sich, dass den eingewanderten Familien zur Beurteilung der Schulsituation in Deutschland auch jene Lerninhalte und -formen als Maßstab dienen, die im Schulsystem der Herkunftsgesellschaft galten. Darin hatten sich die Kinder mit guten Leistungen behaupten können. Die Kenntnis verschiedener Schulsysteme und Lerninhalte gestattet es den betroffenen Familien, einen Vergleich anzustellen, der nicht immer zugunsten des deutschen Schulsystems ausfällt. Daraus ziehen sie Ansporn, die schulische Rückstufung nicht als gegeben anzuerkennen. Aufgrund ihres Bildungsniveaus und des Wissens über die verschiedenen Bildungssysteme im Herkunfts- und im Aufnahmeland verfügen diese eingewanderten Familien über eine transnationale Perspektive, die es ihnen erleichtert, dem vorgesehenen Ausbildungsweg zu widersprechen und durchzusetzen, dass das Kind auf eine höhere Schule wechselt.

Geht es bei diesen schulischen Erfahrungen vor allem um Formen institutioneller Diskriminierung, so sind die russischsprachigen Jüdinnen und Juden im Alltag mitunter damit konfrontiert, dass ihr Geburtsort jenseits der deutschen Grenzen oder ein russisch klingender Name Anlass für Misstrauen bieten und die Chance auf gleichberechtigte Teilhabe verringern:

"Ich fand es auch furchtbar, wenn ich meinen Namen sagen musste. Als ich auf Wohnungssuche war, hieß es am Telefon: Ja, klar, wir machen einen Termin aus. Dann können Sie die Wohnung besichtigen. Geben Sie mir doch Ihren Namen durch. Und dann habe ich meinen Namen gegeben. Ach so, ja, nein, an Ausländer vermieten wir nicht. Und solche Sachen habe ich ein paar Mal erlebt und das fand ich nicht gut. Das hatte auch nichts mit meinem Jüdischsein zu tun, sondern eher was mit meinem Russischsein, also mit meinen russischen Wurzeln. Und deswegen, das mag ich gar nicht. Also ich habe ein wirkliches Problem damit zu sagen, dass ich Russin bin. Kann auch sein, dass es auch mit diesen Stigmatisierungen zu tun hat. Weil, also, Russin, also, das Wort Russin hat nicht immer ein gutes Image."[20]

Die Schilderung der jungen Frau entspricht den Ergebnissen jüngerer Studien,[21] die zeigen, wie Migrantinnen verschiedener Herkunft auf dem Wohnungsmarkt strukturell benachteiligt werden, wenn sie bei der Bewerbung mit einem Akzent sprechen oder ihren fremd klingenden Namen nennen. In ihren Augen verknüpft sich die erfahrene Diskriminierung nicht allein mit ihrem Migrationshintergrund, sondern damit, dass sie in Deutschland als Russin wahrgenommen wird. Damit sieht sie sich einer Minderheit zugeordnet, die in der deutschen Öffentlichkeit nicht wohlgelitten ist. Obgleich sie sich an anderen Stellen im Interview durchaus mit der russischen Sprache und Kultur identifiziert, weist sie eine solche Zugehörigkeit zurück, weil sie darin die Gefahr sieht, stigmatisiert zu werden. In dieser Abwehrhaltung offenbart sich eine Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdzuschreibung, die folgenreich dafür ist, wie sich die junge Frau in der Einwanderungsgesellschaft positioniert. Fühlt sie sich einerseits mit einer Gruppe verbunden, mit der sie Wissensvorräte teilt und gemeinsame Bande hat, so distanziert sie sich andererseits von dieser Zugehörigkeit, der in der hiesigen Mehrheitsgesellschaft ein niedriger symbolischer Rang in einer etablierten Herkunftshierarchie zugeschrieben wird.

Im Unterschied zu den Schilderungen darüber, welche Formen der Diskriminierung sie aufgrund ihres Migrationshintergrunds erlebt haben, löst die Frage nach antisemitischen Erfahrungen bei den Interviewten Reflexionen über ein Thema aus, das für Juden in ihrem Verhältnis zur sie umgebenden Bevölkerung historisch bis in die Gegenwart zentral ist, nämlich ihre Sichtbarkeit als Jüdinnen und Juden.[22] Während die jungen Erwachsenen wiederholt erlebt haben, aufgrund ihres russischen Namens oder ihres Akzents als „Migranten“ oder „Russen“ kategorisiert zu werden, ist ihre jüdische Zugehörigkeit nicht erkennbar, sofern sie nicht über bestimmte Praktiken gezeigt wird, wie etwa die Wahl der Kleidung, das Tragen religiöser jüdischer Symbole, die Zuschreibung qua Namen oder spezifische soziale Handlungen. Für die jungen russischsprachigen Befragten, die sich mehrheitlich als säkulare Juden verstehen, folgen daraus verschiedene Strategien, wie sie in sozialen Situationen mit ihrem Jüdischsein umgehen:

"In Deutschland ist das so, dass keiner mich als solche erkannt hat, und ich habe das auch nie offen gesagt, also nur sehr guten Freunden, aber sonst sage ich das nicht, weil ich einfach sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht habe. Es gibt in Deutschland auch sehr viel Antisemitismus. Man hört schon oft genug auch auf der Arbeit gegen Israel, ganz viel Hetze, gegen Juden, das kommt vor. Also ich glaube, nicht so massiv wie in der Ukraine, auch nicht so offen. Also hier versteckt sich ganz viel so im Israel-Hass. Aber das gibt es einfach, man muss aufpassen, man darf sich dann auch nicht so offenbaren, nicht in allen Lebensbereichen."[23]

Unsere Interviewpartnerin Sveta ist als Zwölfjährige aus der Ukraine eingewandert, wo sie als kleines Mädchen von anderen Kindern als Jüdin beschimpft und körperlich drangsaliert wurde. Diese negativen Erfahrungen begleiten sie auch hier in Deutschland, wo ihr, ihrer Wahrnehmung nach, ebenfalls viel Antisemitismus begegnet, der sich insbesondere in Hass auf Israel äußere. Das deckt sich mit soziologischen und publizistischen Befunden.[24] Die junge Frau schützt sich gegen mögliche An- und Übergriffe, indem sie ihre jüdische Herkunft für sich behält und sie nur in einem vertrauten sozialen Umfeld offenbart. Sveta greift auf ein Handlungsrepertoire zurück, das an kollektive jüdische Erfahrungen anschließt, die auch die sowjetischen Juden teilen. Dazu gehörte in vielen russischsprachigen jüdischen Familien, klar zwischen privatem und öffentlichem Leben zu trennen. Das diente dazu, die eigene jüdische Herkunft nach Möglichkeit für sich zu behalten, um in der Schule, im Beruf oder im öffentlichen Leben antisemitischen Anfeindungen zu entgehen.

Während Sveta ihre jüdische Herkunft als etwas Privates begreift, dessen Preisgabe sie kontrollieren will, ist diese im Fall von Olga öffentlich sichtbar und eindeutig religiös konnotiert. Als moderne orthodoxe Jüdin trägt sie eine Kopfbedeckung. Sie lebt mit ihrer Familie nach jüdischen Gesetzen und Regeln und ist in eine jüdische Gemeinschaft eingebettet. Auch Olga schildert die verletzende Erfahrung der antisemitisch geführten Beschneidungsdebatte ebenso wie einen wiederkehrenden israelbezogenen Antisemitismus, der ihr entgegenschlägt, wenn nichtjüdische Deutsche auf sie treffen und sie als Jüdin ansprechen:

"Aber […] klar, natürlich gerade, wenn dann jemand mich kennenlernt, also jemand, der nicht jüdisch ist, mich kennenlernt und weiß, ich bin jüdisch, dann kommt sofort die Frage: Wie ist das mit Israel? Gerne natürlich auch sowas wie: Was macht ihr in Israel? Wo ich mir immer denke, ich weiß nicht, was ich da mache – höchstens Urlaub, aber mehr nicht.[25]

Olga kritisiert nicht allein einen Antisemitismus, der den Umweg über Israel wählt. Vielmehr weist sie eine Fremdzuschreibung nichtjüdischer Deutscher zurück, wonach sie für alles, was in Israel passiert, persönlich in Haftung genommen und damit als Jüdin gleichsam selbstverständlich zu einer Bürgerin des israelischen Staates erklärt wird: „Also als Israeli fühle ich mich ganz bestimmt nicht.“ Im Unterschied zu Sveta besteht sie darauf, in Deutschland ihr Judentum sichtbar zu machen und beharrt darauf, in dieser Differenz als deutsche Staatsbürgerin heimisch zu sein.

Beide Interviewpartnerinnen sind repräsentativ für zwei unterschiedliche Strategien, mit denen sie in ihrem Alltag auf Stigmatisierung und Antisemitismus reagieren. Während Sveta darauf setzt, ihre jüdische Herkunft im öffentlichen Raum zu verbergen und sich so zu schützen, entscheidet sich Olga für einen offensiven Umgang, der die eigene Identität öffentlich betont und auf die Anerkennung der eigenen Gruppe dringt.[26]

Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen, dass die jungen russischsprachigen Jüdinnen und Juden widersprüchliche Erfahrungen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft machen. Im Unterschied zur Generation ihrer Eltern sind sie sozial und ökonomisch erfolgreich und bestätigen durch ihren Aufstieg rückwirkend die familiäre Entscheidung, nach Deutschland zu emigrieren. Die gelungene strukturelle Integration, verbunden mit der erworbenen Staatsbürgerschaft, hat zur Folge, dass die jungen Erwachsenen selbstverständlich ihren Platz in Deutschland behaupten. Allerdings unterscheiden sie nachdrücklich zwischen der deutschen Staatsbürgerschaft als formaler Mitgliedschaft in einem staatlichen Gemeinwesen und ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen. Ihre Selbstpositionierungen verweisen auf eine symbolische Ordnung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die durch eine Hierarchie von Herkünften gekennzeichnet ist und in der sie als Migrantinnen und Juden wiederholt Diskriminierung und Antisemitismus ausgesetzt sind. In ihren Äußerungen werden defensive wie offensive Strategien sichtbar, auf die sie zurückgreifen, wenn sie sich zu den symbolischen und sozialen Grenzen ihrer Mehrfachzugehörigkeiten verhalten, um in einem dynamischen Wechselspiel zwischen Fremdzuschreibung und Selbst­identifikation als Akteure kenntlich zu bleiben. Dreißig Jahre nach Beginn dieser Einwanderung sind die russischsprachigen Juden in Deutschland angekommen. Angesichts eines gesellschaftlichen Klimas, in dem das Bedürfnis nach nationaler Schließung wächst, bleibt offen, ob sie sich künftig als deutsche Juden sehen werden.

 


    [1]   Zur Einwanderung der russischsprachigen Juden und dem Wandel der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland: Karen Körber: Conflicting Memories, Conflicting Identities. The Russian-Jewish Immigration and the Image of a New German Jewry, in: Cornelia Wilhelm (Hg.): Migration, Memory and Diversity in Germany after 1945. Oxford/New York 2016.

[2]   Diese Fragen wurden 2013/14 in der Studie „Lebenswirklichkeiten – Jüdische Gegenwart in Deutschland“ am Jüdischen Museum Berlin erforscht. In einer Online-Umfrage wurden 267 junge russischsprachige Jüdinnen und Juden im Alter von 20 und 40 Jahren befragt, die im Rahmen des Kontingentverfahrens als Kinder mit ihren Familien eingewandert sind. Zudem wurden bundesweit dreißig Interviews durchgeführt. Unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2014. Im Folgenden zitiert als: Transkript „Lebenswirklichkeiten“.

[3]   Körber, Lebenswirklichkeiten [Fn. 1], S. 6.

[4]   Dies., S. 29.

[5]   Dies., S. 14.

[6]   Die Daten unserer Studie weisen Parallelen und Unterschiede zu jüngeren Umfragen auf. Diese hatten ergeben, dass die Zahl antisemitischer An- und Übergriffe in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Ein Kristallisationspunkt war die Beschneidungsdebatte, die im Sommer 2012 in Deutschland geführt wurde, als ein Rabbiner wegen Körperverletzung angezeigt wurde, nachdem er eine rituelle Beschneidung durchgeführt hatte. Stimmen wurden laut, die forderten, die Beschneidung zu verbieten. In der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft in Deutschland löste dies Empörung aus. Obgleich unsere Befragung kurz danach stattfand, reagierten die Befragten weniger empört. Konsens bestand darüber, dass das Internet ein bevorzugter Ort für antisemitische Kommentare und Angriffe ist. Andreas Zick, Andreas Hövermann, Silke Jensen, Julia Bernstein: Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus: <https://uni-bielefeld.de/ ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf>. – Zur gesetzlichen Regelung der Beschneidung: <www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/ 42042381_kw50_de_ beschneidung-210238>.

[7]   Lisa, Transkript, S. 17, Z: 706–15.

[8]   Alek, Transkript, S. 15, Z: 595–602.

[9]   Sveta, Transkript, S. 11, Z: 442–47.

[10] Das deckt sich mit den Befunden der Sozialanthropologin Dani Kranz über junge Israelis in Berlin: Dani Kranz: Israelis in Berlin. Wie viele sind es und was zieht sie nach Berlin? <www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/Israelis_in_Berlin.pdf>.

[11] Stuart Hall: Die Frage der kulturellen Identität, in: ders.: Ausgewählte Schriften 2. Hamburg 1994, S. 180–222. – Richard Jenkins: Ethnicity Etcetera. Social Anthropological Points of View, in: Ethnic and Racial Studies, 19/1996, S. 807–822.

[12] Jürgen Gerhards, Sylvia Kämper: Symbolische Grenzen und die Grenzarbeit von Migrantinnen und Migranten. Ein Typologisierungsvorschlag am Beispiel des Umgangs mit Vornamen, in: Zeitschrift für Soziologie, 5/2017, S. 303–325.

[13] Dascha, Transkript, S. 16, Z: 706–10.

[14] Tatjana, Transkript, S. 18, Z: 751–53.

[15] Dascha, Transkript, S. 2, Z. 52–66.

[16] Alek, Transkript, S. 1, Z: 22–33.

[17] Sergey, Transkript, S. 2, Z: 50–57.

[18] Mechtild Gomolla, Frank-Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Wiesbaden 2002. – Aladin El-Mafalaani, Thomas Kemper: Bildungsungleichheit ist nicht gleich verteilt. <http://politeknik.de/bildungsungleichheit-ist-nicht-gleich-verteilt-zur-bildungsbenachteiligung-tuerkischer-schuelerinnen-in-deutschland-aladin-el-mafaalanithomas-kemper>.

[19] Julius. H. Schoeps u.a.: Russische Juden in Deutschland. Integration und Selbstbehauptung in einem fremden Land. Weinheim 1996, S. 90f.

[20] Dascha, Transkript, S. 6, Z: 233–244.

[21] Jan Schneider, Ruta Yemane, Martin Weinmann: Diskriminierung am Ausbildungsmarkt. Ausmaß, Ursachen und Handlungsperspektiven. Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Berlin 2014.

[22] Kerry Wallach: Passing Illusions. Jewish Visibility in Weimar Germany. University of Michigan 2017.

[23] Sveta, Transkript, S. 12, Z: 480–86.

[24] Doron Rabinowitz, Ulrich Speck, Nathan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt/Main 2004.

[25] Olga, Transkript, S. 21, Z: 879–885.

[26] Michèle Lamont, Nissim Mizrachi: Ordinary people doing extraordinary things. Responses to stigmatization in comparative perspective, in: Ethnic and Racial Studies, 35/2012, S. 365–381.

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