„Das Recht wird an die inhumane Praxis angepasst“
Ein Gespräch über die EU-Ostgrenze und das Asylrecht
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Abstract in English
Abstract
Im Juni 2021 registrierte Litauen eine steigende Zahl von Menschen, die aus Belarus über die grüne Grenze ins Land kamen. Wenige Wochen später wiederholte sich dies an der polnisch-belarussischen Grenze. Auch dort versuchten Menschen aus Syrien, aus dem Irak oder aus Afghanistan durch die Wälder in die EU zu gelangen. Polen hat die Grenze mit einem großen Polizei- und Militäraufgebot abgeriegelt und will eine unüberwindbare Sperranlage bauen. Auch Litauen und Lettland setzen auf Abschottung – und werden darin von der Europäischen Union unterstützt. Ein Gespräch über Asylrecht, Humanität und die Dimension der Krise.
(Osteuropa 8-9/2021, S. 5360)
Volltext
Osteuropa: Herr Gilster, wie viele Menschen aus dem Nahen Osten und Afghanistan sind in den vergangenen Monaten über Belarus in die Europäische Union gekommen?
Ansgar Gilster: Die Bundespolizei hat bis Ende 2021 11 213 Menschen registriert, die über Belarus und Polen irregulär nach Deutschland eingereist sind. Litauen gibt an, im vergangenen Jahr 4326 Schutzsuchende registriert zu haben, davon 30 Prozent Minderjährige. Etwa 500 dieser Menschen wurden zurück in den Irak geflogen. Die polnischen Behörden sprachen im Dezember von 2505 Asylsuchenden aus dem Nahen Osten und Afghanistan, die zwischen Juli und Oktober registriert worden seien. Eine kleinere Anzahl von Menschen hält sich gewiss noch in Polen versteckt, weil sie fürchten, dass die polnische Polizei sie über die Grenze zurück nach Belarus bringt. Diese Angst ist berechtigt, entsprechende Vorfälle sind bestätigt. Manche Menschen mögen auch von Deutschland aus in ein anderes EU-Land weitergezogen sein, wo sie Verwandte oder Bekannte haben.
Osteuropa: Und wie viele Menschen, schätzen Sie, haben ohne Erfolg versucht, in die EU zu gelangen und befinden sich noch in Belarus?
Gilster: Ende November sprach die Internationale Organisation für Migration (IOM) von rund 7000. Dies deckt sich mit Angaben, die das Regime in Minsk machte. Da seitdem rund 3000 Menschen in den Irak zurückgeflogen wurden, dürften in Belarus mindestens noch 4000 Schutzsuchende sein. Das belarussische Rote Kreuz gab Ende Dezember 2021 an, allein am Grenzübergang Kuźnica-Bruzgi seien rund 600 Menschen auf belarussischer Seite in einer Lagerhalle untergebracht.
Osteuropa: Gelegentlich war von viel mehr Menschen die Rede …
Gilster: Das stimmt. Die belarussische Oppositionsführerin im litauischen Exil Svetlana Tichanovskaja sprach im November von bis zu 1000 Menschen, die täglich aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Belarus gebracht würden. Die tageszeitung hat daraufhin Flugzeuge gezählt und diese Zahl bestätigt. Zwischen Anfang Juli und Mitte November 2021 seien mindestens 625 Flugzeuge mit je rund 150 Menschen an Bord aus dem Libanon, dem Irak, Syrien, den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie der Türkei in Minsk angekommen. Das wären über 90 000 Menschen. Diese Zahl fügt sich jedoch nicht in die übrigen Berichte und Bilder. Sie ist zu hoch. Zeitweise mögen 1000 Menschen täglich in Minsk angekommen sein, aber nicht über mehrere Monate.
Der polnische Innenminister Mariusz Kamiński erklärte Ende August, es habe im Laufe des Monats mehr als 9400 irreguläre – in den Worten der polnischen Behörden: illegale – Grenzübertritte gegeben. Im Oktober war von 17 300 Versuchen die Rede, im Dezember von insgesamt 40 000 versuchten Grenzübertritten in den vorhergehenden Monaten. Dabei ist jedoch nicht berücksichtigt, dass die Schutzsuchenden in ihrer Verzweiflung und getragen von einer letzten Hoffnung wieder und wieder versucht haben, den Stacheldraht zu überwinden. Wer wie der polnische Grenzschutz zählt, will einen Massenansturm suggerieren.
Realistisch ist, dass 25 000 bis 30 000 Menschen den Versprechungen des Minsker Regimes geglaubt haben, 20 000 Menschen auf die eine oder andere Weise in die EU gelangt sind, 4000 sich noch in Belarus befinden und gut 3000 Personen zurück in den Irak geflogen wurden. Im polnischen Grenzgebiet, das weiterhin militärische Sperrzone ist, irren immer noch Menschen durch die Wälder – ob Dutzende oder gar Hunderte, lässt sich nicht sagen. Seit Wochen dringen von dort keine Informationen mehr nach außen. Reporter ohne Grenzen spricht von einem „Notstand für die Pressefreiheit“. Diese politisch verhängte Stille bereitet mir gegenwärtig die größte Sorge.
Osteuropa: Wo werden die Menschen hingebracht, wenn sie von den Behörden aufgegriffen werden?
Gilster: Wer in Deutschland von der Polizei aufgegriffen wird oder sich als schutzsuchend meldet, kommt zur Registrierung und medizinischen Untersuchung in eine Erstaufnahmeeinrichtung. Die Menschen, die via Belarus und Polen nach Deutschland gelangten, kamen zunächst in die Sammelunterkunft der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt (Brandenburg). Wer wo genau untergebracht wird, regelt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit dem Computerprogramm EASY (Erstverteilung der Asylbegehrenden) nach einer bestimmten Aufnahmequote für das jeweilige Bundesland und abhängig vom Herkunftsland des Asylbewerbers. Entscheidend ist: Das Aufnahmeverfahren läuft geregelt ab. Als im September, Oktober, November in kurzer Zeit viele Menschen über die Belarus-Route in Deutschland ankamen, war das für die Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt eine große Herausforderung. Dort gibt es 3500 Plätze. Die Einrichtung stellte beheizte Zelte auf, und schaffte so provisorische Plätze für weitere 1100 Menschen. Zudem wurde pragmatisch und rasch gehandelt, viele Kommunen meldeten freie Plätze, so dass die Menschen gut untergebracht werden konnten. Die Verwaltung war stark gefordert, aber nicht überfordert. Alle 11 213 Menschen, die über die Belarus-Route nach Deutschland gekommen sind, wurden auf diese Weise registriert und versorgt.
Im Sommer 2015 kamen mitunter 10 000 Menschen pro Tag nach Deutschland. Dieser Stresstest hat Strukturen und viel Erfahrungswissen hinterlassen. Für Litauen und Polen ist die Erfahrung neu gewesen, Schutzsuchende versorgen zu müssen. Litauen brachte die Menschen zunächst in Dorfschulen oder leerstehenden Gebäuden unter. Später ließen die Behörden große behelfsmäßige Zeltlager für mehrere hundert Menschen errichten, so auf einem Truppenübungsplatz südlich von Vilnius. Rechtzeitig vor dem Winter wurden Menschen aus solchen Lagern umquartiert – etwa in ein ehemaliges Gefängnis in Kybartai bei Kaunas. Hier sind die Menschen unter haftähnlichen Umständen interniert.
Osteuropa: Was sagt das europäische Recht dazu?
Gilster: Artikel 8 der EU-Aufnahmerichtlinie aus dem Jahr 2013 besagt: Personen dürfen nicht allein deshalb in Haft genommen werden, weil sie einen Asylantrag stellen. Ein Asylgesuch ist keine Straftat. Jeder hat das Recht, einen Asylantrag in der EU zu stellen, sobald er sich auf EU-Boden befindet. Zwar ist Haft nicht grundsätzlich verboten, aber ein ultima-ratio-Mittel und an hohe Anforderungen geknüpft, weil es ein gravierender Eingriff in die persönliche Freiheit ist. Da es sich bei Asylsuchenden auch nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um per se besonders schutzbedürftige Personen handelt, hält der EGMR jede Inhaftierung, die länger dauert als „vernünftigerweise notwendig“, für rechtswidrig.
Auch die Europäische Grundrechtecharta ist in dieser Hinsicht klar: Sobald ein milderes Mittel bereitsteht, ist Haft rechtswidrig. Jeder Fall muss einzeln geprüft werden. Minderjährige Kinder dürfen beispielsweise nach Artikel 11.2 der Aufnahmerichtlinie nur im „äußersten Falle“ und „für den kürzestmöglichen Zeitraum“ festgehalten werden – während der Staat alle Anstrengungen unternehmen muss, sie in geeignete Unterkünfte zu entlassen. Kurz: Die pauschale, massenhafte Inhaftierung von Geflüchteten ist verboten. Das neue litauische Asylrecht, das seit Sommer 2021 vorschreibt, Schutzsuchende nach der Einreise für ein halbes Jahr zu inhaftieren, ist europarechtswidrig.
Aber Litauen ist kein Einzelfall. An vielen Orten entlang der EU-Außengrenze ist die katastrophale Unterbringung und Inhaftierung geflüchteter Menschen zum Dauerzustand geworden. Und die EU-Kommission trägt zur Normalisierung und Legalisierung dieser eigentlich rechtswidrig Zustände bei. Hier geht es nicht um eine zeitweise Überforderung der Behörden, sondern um gezielte Verelendung zwecks Abschreckung.
Der litauischen Regierung kann man immerhin zugutehalten, dass sie die Menschen überhaupt unterbringt und gerade jetzt im Winter nicht sich selbst überlässt. Die litauische Caritas wies darauf hin, dass angesichts der Minustemperaturen die Unterbringung in einem Gefängnis immer noch besser sei als in einem Zeltlager.
Osteuropa: Und Polen?
Gilster: Polens Regierung hat billigend in Kauf genommen, dass Menschen an Kälte, Erschöpfung und Hunger sterben. Die IOM zählt 21 Fälle, in denen Menschen, darunter auch Kinder, an der polnisch-belarussischen Grenze umgekommen sind, weil sie keinerlei Versorgung erhielten. Jeder Mensch ist bereits nach wenigen Tagen Fußmarsch durch Wälder und Sümpfe, ohne Wasser und Nahrungsmittel, unterkühlt, geschwächt, durchnässt, am Ende seiner Kräfte. Schnell geht es ums nackte Überleben. Hilfsorganisationen, die in kleinen Teams die Wälder entlang des Sperrgebiets durchkämmen, sind immer wieder auf Menschen mit offenen Füßen gestoßen, die nicht mehr weitergehen konnten; auf Menschen, die im nassen Schlafsack im Unterholz lagen und keine Kraft mehr zum Aufstehen hatten. Männer, Frauen und Kinder ohne Jacken oder Schuhe – als der Winter bereits hereingebrochen war. Die meisten Menschen hatten Polizeigewalt erlitten. Belarussische Truppen hatten sie mit Schlagstöcken und Hunden in Richtung Polen getrieben, wo sie auf Stacheldraht und polnischen Grenzschutz und Polizei trafen, die sie am Weitergehen hinderten, ihre Handys konfiszierten und sie zurück nach Belarus trieben.
Die Berichte der Betroffenen deuten darauf hin, dass der polnische Grenzschutz im Allgemeinen weniger brutal vorgegangen ist als der belarussische. Gelegentlich haben polnische Beamte medizinische Hilfe vermittelt oder auch Essen und Tee ausgegeben, während die belarussischen Milizen die Geflüchteten eher noch geschlagen und ausgeraubt haben. Insgesamt steht aber fest, dass Polen humanitäre Hilfe auf dem eigenen Territorium verweigert und Menschen widerrechtlich zurück in die Wälder auf belarussischer Seite getrieben hat. Die Regierung hat zudem Hilfsorganisationen behindert und eingeschüchtert. Hätten ehrenamtliche Helfer, Ärzte, Journalisten und Rechtsanwälte Zugang zum Grenzgebiet gehabt, wären zweifellos Menschenleben gerettet worden. Doch es sollte keine Zeugen, keine Beweise der polnischen Menschenrechtsverletzungen und Pushbacks geben.
Osteuropa: Sie sprechen von Pushbacks. Das Wort ist in aller Munde. Aber was genau bedeutet es?
Gilster: Es gibt das völkerrechtliche Gebot der Nichtzurückweisung, auch Non-refoulement-Gebot oder Refoulement-Verbot genannt. Staaten ist es verboten, fliehende Menschen in andere Staaten zurückzubringen, wo ihnen Folter, grausame, erniedrigende Behandlung oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Pushbacks bezeichnen den Verstoß gegen dieses Verbot: Polizei und Grenzschutz zwingen Geflüchtete zurück in die Situation, aus der sie zu fliehen versuchen. Weil das Zurückweisungsverbot für Schutzsuchende eine so entscheidende Garantie ist, ist es als Grundprinzip des Flüchtlingsschutzes in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschrieben, ebenso in der europäischen Grundrechte-Charta. Als Bestandteil des Folterverbots hat es absoluten Charakter, ist notstandsfest und gilt ausnahmslos immer und überall.
Dennoch brechen EU-Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen dieses Recht systematisch und immer unverhohlener – auf dem zentralen Mittelmeer, in der Ägäis, an der kroatisch-bosnischen Grenze. Das ist hinreichend belegt. Polen, auch Litauen, reihen sich hier nun ein, wenn sie ihre Grenzzäune militärisch abriegeln. Helferinnen und Helfer berichten, dass die polnische Polizei sogar Menschen, die weit im Landesinneren aufgegriffen wurden, zurück an die Grenze gebracht hat. Dort findet nicht etwa eine Übergabe an die belarussischen Behörden statt. Die Menschen werden durch den Wald auf die andere Seite getrieben. Manche haben mehr als ein Dutzend solcher Pushbacks erlebt. Selbst aus polnischen Krankenhäusern heraus wurden Menschen nach ihrer medizinischen Behandlung zurück über die Grenze geschickt und wieder schutzlos gemacht.
In einem Fall sind sogar drei Menschen mit deutschem Aufenthaltstitel Opfer von Pushbacks geworden. Sie waren aus Deutschland nach Polen gereist, wurden von der polnischen Polizei aufgrund ihres Aussehens aus dem Berlin-Warschau-Expresszug geholt, an die Grenze zu Belarus verschleppt und dort im Wald ausgesetzt. Mehrfach versuchten sie zurück nach Polen und von dort nach Deutschland zu gelangen – vergeblich. Immer wieder gerieten sie in die Hände des polnischen Grenzschutzes. Seit Wochen sitzen sie nun in Belarus fest, während ihre Familien in Deutschland vor Angst und Sorge nicht mehr weiterwissen.
Osteuropa: Zugleich ist immer wieder von „illegalen Grenzübertritten“ die Rede. Haben diese Menschen die Chance auf einen legalen Grenzübertritt?
Gilster: Gäbe es sichere und legale Wege, auf denen Menschen den Irak, Syrien, Afghanistan oder andere Kriegs- und Krisengebiete verlassen könnten, würden sich nicht so viele auf irreguläre, lebensgefährliche Fluchtrouten begeben – und sich dabei Schleppern ausliefern. Aktuell ist das belarussische Regime die Schlepperorganisation. Es versprach den schutzsuchenden Menschen eine Brücke über den Burggraben in die Festung Europa. Das Regime hat die Verzweiflung der Menschen und ihre Hoffnung für seine politischen Zwecke genutzt.
Was genau sich Minsk davon versprach, ist nicht klar. Dass Lukašenka und sein Regime wirklich gehofft haben, dass die EU Sanktionen zurücknimmt, damit keine Menschen mehr an die Grenze zu Polen und Litauen gebracht werden, ist wenig wahrscheinlich. Eher ging es um schlichte Vergeltung. Nach dem Motto: Ihr belegt uns mit Sanktionen, dann bereiten wir Euch auch Probleme – mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Als im Dezember deutlich weniger Geflüchtete an die belarussisch-polnische Grenze kamen, feierte Warschau einen Erfolg. Polen habe der Erpressung standgehalten, und die EU habe sich nicht spalten lassen. Übersehen wird, dass ein Ziel des Regimes in Minsk darin bestand, das positive Bild von der Europäischen Union und den Nachbarländern zu beschädigen. Die entsprechenden Bilder für das belarussische Fernsehen bekam Lukašenka geliefert. Auch in Russland bekamen die Menschen in den Nachrichten zu sehen, dass es mit Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in der EU nicht weit her ist.
Osteuropa: Dieses Bild ist verzerrt…
Gilster: Gewiss. Es gab in Polen eine sehr große Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Im Grenzgebiet haben Menschen grüne Lichter in die Fenster ihrer Häuser gestellt, um ihre Hilfsbereitschaft zu signalisieren. Dies ist überall in Polen zu einem Symbol von Solidarität geworden. Eine Reihe etablierter NGOs, etwa die Fundacja Ocalenie, Homo Faber und Stowarzyszenie Interwencji Prawnej haben sich stark engagiert, um Menschen zu helfen. Die polnischen Kirchen helfen durch Caritas und Diakonie, allerdings eher in den Asylzentren. Unverzichtbar waren jedoch die Graswurzelorganisationen wie das Netzwerk Grupa Granica (Grenzgruppe) oder die kleinere Initiative Medycy na Granicy (Ärzte an der Grenze). Diese ehrenamtlichen Helfer fuhren die Grenze des Sperrgebiets ab, um Geflüchteten zu helfen – mit Wasser, Tee, Essen, Medikamenten, trockener Kleidung, Schuhen, Taschenlampen oder Akkustrom für Mobiltelefone. Und natürlich mit Informationen und emotionalem Beistand.
Osteuropa: In den polnischen Nachrichten waren andere Bilder zu sehen.
Gilster: Natürlich! Auch hier findet ein Kampf um Bilder statt. Wer auf Abschottung und Abschreckung setzt, will keine Nachrichten von hilfsbereiten Menschen. Die polnische Regierung wollte die Botschaft vermitteln, dass der Grenzschutz und die Armee tapfer die Grenze verteidigen und erfolgreich die gefährlichen Flüchtlinge abwehren, die nichts anderes als eine Waffe in der Hand Lukašenkas seien.
Tatsache ist aber, dass die humanitäre Hilfe im Grenzgebiet auf erhebliche Unterstützung in der polnischen Gesellschaft stieß. Menschen spendeten Geld, Kleidung, Nahrungsmittel – und organisierten private Hilfstransporte in den Osten des Landes. Die Betroffenheit war groß, als Ende September nicht mehr geleugnet werden konnte, dass Familien mit kleinen Kindern im Wald umherirren. Am 23. Oktober fand in Michałowo bei Białystok ein Protestmarsch der Matki na granicę (Mütter an der Grenze) statt, an dem sich mit Danuta Wałęsa, Jolanta Kwaśniewska und Anna Komorowska die Ehefrauen von drei ehemaligen Präsidenten beteiligten. Sehr viele Nichtregierungsorganisationen, der Ombudsmann für Bürgerrechte und auch die katholische Kirche verurteilen das Vorgehen der Regierung und rufen zu Solidarität und dem Schutz der Menschenrechte auf.
Osteuropa: Welche Rolle spielten Organisationen aus dem Ausland?
Gilster: Die deutsche Bewegung Seebrücke brachte Hilfsgüter nach Michałowo, sammelte Spenden und forderte die Bundesregierung auf, zu helfen und Menschen aufzunehmen. Auch mit grünen Lichtern wurde demonstriert: Unzählige Menschen in Deutschland zündeten in der Adventszeit grüne Lichter an und stellten sie in ihre Fenster; Tausende Teelichter leuchteten vor dem Reichstag, auch viele Kirchen wurden grün beleuchtet. Der brandenburgische Hilfsverein Wir packen’s an bringt regelmäßig Hilfsgüter nach Ostpolen. Und ähnlich wie in Polen gibt es entlang der deutsch-polnischen Grenze eine mobile Helferstruktur. Wer eine Notrufnummer wählt, bekommt Wasser, Essen, Kleidung gebracht. Und erhält Begleitung, um bei den Behörden ein Asylgesuch zu stellen.
Osteuropa: Wie gehen die Behörden in Polen und Litauen mit den privaten Hilfsinitiativen um?
Gilster: Die Polizei versucht Hilfe zu unterbinden. Wie anderswo werden auch an der östlichen EU-Außengrenze Flüchtlingshelfer eingeschüchtert und kriminalisiert. Jüngst wurden in Litauen Vertreter von Ärzte ohne Grenzen sowie Helferinnen und Helfer der kleinen Initiative Sienos Grupė (Grenzgruppe) mit Geldbußen wegen unerlaubten Aufenthalts im Grenzgebiet belegt. Sie hatten am 24. Dezember einem verletzten Flüchtling Tee und Essen gebracht, medizinische Ersthilfe geleistet und den Grenzschutz alarmiert. Auch ein Strafverfahren wegen Schlepperei wurde gegen sie eröffnet …
In Polen stürmte die Polizei am 15. Dezember bei einer nächtlichen Razzia ein Hilfszentrum des Klub Inteligencji Katolickiej (Klub der katholischen Intelligenz) in der östlich von Białystok gelegenen Gemeinde Gródek. Mehrere Dutzend Beamte mit automatischen Waffen durchsuchten die Einrichtung, verhörten die Helfer stundenlang, beschlagnahmten Mobiltelefone und Laptops. Die Polizei hatte keinen Durchsuchungsbefehl, die Verhöre begannen, bevor Anwälte eingetroffen waren. Die Helferinnen und Helfer der katholischen Laienorganisation wurden wie Schwerverbrecher behandelt. Das zeigt, dass es nicht um Strafverfolgung geht, sondern darum, der Zivilgesellschaft Angst zu machen.
Osteuropa: Die EU-Kommission hat Polen, Litauen und Lettland Anfang Dezember angeboten, die Anwendungsregeln im Asylprozess vorübergehend flexibler zu handhaben. Wie beurteilen Sie dies?
Gilster: Die Begründung dieser Sonderregeln war bemerkenswert. Auf der Pressekonferenz am 1. Dezember 2021, bei der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson die Vorschläge vorstellte, betonte sie einerseits, dass die Zahl der Schutzsuchenden „nicht hoch“ sei und von einer „Migrationskrise“ keine Rede sein könne. Andererseits erklärte sie, dass angesichts der „akuten Notlage“ Artikel 78(3) des Vertrags zur Arbeitsweise der EU aktiviert werden könne, um Polen, Lettland und Litauen die Möglichkeit zu geben, die asylrechtlichen EU-Vorschriften auf ein Minimum zu reduzieren.
Kurzgesagt handelt es sich um drei Vorschläge. Erstens sollen Schutzsuchende nicht mehr innerhalb von zehn Tagen registriert werden müssen, sondern von vier Wochen. Damit bleiben Menschen länger schutzlos, es wird ein rechtlicher Schwebezustand erzeugt, der Pushbacks erleichtert. Denn wer nicht registriert ist, kann zurück über die Grenze gebracht werden, ohne dass dies Spuren hinterlässt.
Zweitens soll über die Schutzbedürftigkeit in Grenzverfahren entschieden werden. Während dieser Verfahren, die bis zu vier Monate dauern sollen, werden die Menschen in geschlossenen Lagern festgehalten und gelten als „nicht eingereist“. Der neue juristische Begriff dafür lautet: Fiktion der Nichteinreise. Dieses Konstrukt untergräbt fundamental das Asylrecht. Staatliche Zuständigkeit und damit Verantwortung werden aufgeweicht. Drittens sollen sich die drei Staaten bei Unterbringung und Abschiebungen nicht mehr an die jeweiligen EU-Richtlinien halten müssen. Geltendes Recht wird einfach ausgesetzt.
Auch wenn die Sonderregeln nur für sechs Monate gelten sollen, höhlen sie das europäische Flüchtlingsrecht weiter aus. Was als Übergangsregelung präsentiert wird, ist in Wahrheit eine Vorschau auf die geplanten neuen Schengen-Regeln. Sie erinnern an den geplanten EU-Pakt zu Migration und Flucht: langsame Registrierung, Fiktion der Nichteinreise, schnelle Screenings statt fairer, ordentlicher Prüfung, mehr Haft, schnellere Abschiebung …
Die EU-Kommission stellt ihre Vorschläge so dar, als würde sie Polen, Litauen und Lettland in einer Krise „entgegenkommen“. Das ist Augenwischerei. Denn die polnische Regierung hat nie versucht, die geltenden Standards für Asylverfahren und Unterkünfte anzuwenden – oder auch nur diesen Anschein zu wahren. Was die EU-Kommission tut, ist die illegale Praxis nachträglich zu legalisieren. Doch nicht einmal daran hat Warschau Interesse. Der polnische EU-Botschafter erklärte: „Die Kommission hat das Gegenteil dessen getan, was wir vorgeschlagen haben. Auf diesen hybriden Angriff antwortet man nicht, indem man Asylverfahren verlängert, sondern indem man sie abschafft.“
Osteuropa: Polen wird für das rigide Vorgehen viel weniger kritisiert als noch vor sechs Jahren Ungarn. Wie erklären Sie das?
Gilster: An dem Schweigen lässt sich ablesen, wie viele Regierungen der EU-Staaten mittlerweile Abschottung und Abschreckung mindestens billigend in Kauf nehmen. Für die Grenze zu Belarus gilt das in besonderem Maße, weil diese Route so offensichtlich vom Lukašenka-Regime in Minsk geschaffen wurde. Und zweifellos auch, weil dies als eine Art Angriff gesehen wurde, hinter dem manche sogar Russland vermuteten.
Schaut man aber auf die Lage an der gesamten Außengrenze der EU, wo vielerorts das Asylrecht faktisch aufgehoben ist, so zeigt sich, dass das Vorgehen überall das gleiche ist. Auf dem Mittelmeer, in der Ägäis, auf dem Balkan und anderswo sind Menschenrechtsverletzungen alltäglich geworden. Massenhaft werden Unschuldige in stacheldrahtbewehrten Haftzentren interniert. Zu beobachten sind behördliche Willkür, unterlassene Hilfeleistung, Straffreiheit für die Verantwortlichen. Und Helfer und Beobachter werden kriminalisiert. Von Stunde zu Stunde gewöhnt sich die europäische Öffentlichkeit mehr an die Rechtlosigkeit mancher Gruppen von Menschen.
Es hat ein vollständiger Kurswechsel stattgefunden. Noch im Jahr 2020 hatte die Kommission in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof zu den dort eingerichteten Transitzonen das bestehende europäische Recht verteidigt. Jetzt, nur ein Jahr später, macht die Kommission Vorschläge, die in ähnlicher Weise das Recht aushöhlen und umbauen. Die Europäische Union versucht nicht mehr, die Kluft zwischen ihrem Selbstbild und den täglichen Rechtsbrüchen an der Außengrenze zu schließen, indem sie auf die Einhaltung von Recht pocht. Vielmehr passt sie das Recht an die inhumane Praxis an. So wird Unrecht zu Recht umdeklariert.
Osteuropa: Was ist im Falle der EU-Ostgrenze zu tun?
Gilster: Alle Geflüchteten müssen sofort humanitäre Hilfe erhalten. Hilfsorganisationen, Ärzte und auch Anwälte müssen unverzüglich und ungehindert ihre wichtige Arbeit vor Ort leisten können. Journalisten müssen frei berichten können. Dann muss klar getrennt werden zwischen dem Ansinnen des Regimes in Minsk – das zweifellos verwerflich war und ist – und der tatsächlichen Dimension des Problems. Menschen sind keine Waffen. Die Bedrohungslage wurde herbeigeredet. Europa sollte nicht auf Erpressungsversuche reagieren, indem es selbst Recht und Humanität über Bord wirft. Das generelle Kalkül der europäischen Regierungen ist aber derzeit: Je größer die Not von Menschen, die nach Europa geflüchtet sind, desto weniger neue Flüchtlinge werden kommen. Diese Annahme ist nicht nur zynisch, sie ist auch falsch. Sie unterschätzt vollkommen, wie verzweifelt die Menschen sind, die nach Europa flüchten. Und sie übersieht, wie der eingeschlagene Kurs die Menschenrechte und Rechtssicherheit generell und für alle Menschen in Europa gefährdet.
Das Gespräch führte Volker Weichsel.
Schlagwörter:
Polen, Belarus, Europäische Union, Asylpolitik, Migrationspolitik, EU-Außengrenze
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