Titelbild Osteuropa 4-5/2022

Aus Osteuropa 4-5/2022

Der lange Weg ins Abseits
Die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft

Alexander Libman

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Abstract in English

Abstract

Russlands Volkswirtschaft scheint die Sanktionen gut überstanden zu haben. Die Deviseneinnahmen sind hoch, die Inflation ist niedrig und der Rubel stark. Doch der Eindruck täuscht. Die eigentliche Wirkung der Sanktionen kommt noch: Russlands Unternehmen sind von zentralen Lieferketten abgeschnitten. Importsubstitution, Parallelimporte und neue Handelsbeziehungen versprechen keine grundlegende Abhilfe. Russlands technologischer Rückstand wird wachsen, verdeckte Arbeitslosigkeit und Armut werden sich ausbreiten. Ihr politisches Ziel werden die Sanktionen jedoch kaum erreichen. Immer mehr Menschen in Russland werden vom Staat abhängig sein, aus Unzufriedenheit erwächst noch keine Handlungsfähigkeit.

(Osteuropa 4-5/2022, S. 99–106)

Volltext

Osteuropa: Der Rubel hat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine Ende Februar 2022 zunächst gegenüber dem Dollar und dem Euro stark abgewertet, dann wieder stark aufgewertet. Was ist der Grund?

Alexander Libman: Der Rubel wertete vor allem wegen der panischen Reaktion der Bevölkerung und der Unternehmen ab. In der Erwartung, dass die Sanktionen zu massiven wirtschaftlichen Problemen für Russland führen werden und der grenzüberschreitende Zahlungsverkehr eingeschränkt wird, haben viele versucht, Geld in eine „sicherere“ Währung – Dollar oder Euro – zu transferieren. Das ist in Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen eine natürliche Reaktion in Ländern wie Russland. Russlands Zentralbank hat darauf mit einer massiven Devisenbewirtschaftung reagiert, also den Kauf von ausländischen Währungen und Zahlungsverkehr mit dem Ausland erheblich erschwert. Das hat einen weiteren Verfall des Rubel-Kurses verhindert.

Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein entgegengesetzter Trend. Die westlichen Sanktionen und der Rückzug vieler westlicher Unternehmen haben dazu geführt, dass die Importe nach Russland massiv geschrumpft sind. Russlands Exporte blieben aber auf einem hohen Niveau. Russland exportiert in großem Maße Rohstoffe und deren Einfuhr schränkte der Westen kaum ein. Zudem sind die Preise für die wichtigsten Exportgüter Russlands stark gestiegen. Die Exporteinnahmen führten zu einem Zufluss von Dollar und Euro, die nicht für Bezahlung der Importe verwendet werden konnten. Dementsprechend wertete der Rubel stark auf und die Zentralbank nahm viele der Maßnahmen zur Devisenbewirtschaftung wieder zurück. Dies ist also kein Zeichen für eine Stärke der russischen Wirtschaft, sondern lediglich eine Folge davon, dass die Sanktionen die Einfuhr nach Russland erheblich erschwert haben, die Ausfuhr jedoch kaum. Sollte es Russland schaffen, seine Einfuhren wieder zu erhöhen – etwa durch Parallelimporte, also die Einfuhr westlicher Güter ohne Genehmigung des Markenrechtsinhabers, oder durch Importe aus China und anderen Staaten, die keine Sanktionen verhängt haben –, würde der Rubelkurs wieder sinken.

Osteuropa: Welche Auswirkungen haben der starke Rubel und die hohen Rohstoffpreise auf Russlands Außenhandel? Spielen die terms of trade überhaupt eine Rolle oder sind die Finanzsanktionen und der Zusammenbruch des Imports wegen des Rückzugs westlicher Unternehmen viel wichtigere Faktoren?

Libman: Für die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung des Landes sind die terms of trade eher sekundär. Entscheidend sind die Unterbrechungen in den Lieferketten. Der Rückzug der ausländischen Unternehmen hat zur Folge, dass mehrere Güter und Dienstleistungen gar nicht mehr nach Russland geliefert werden. Solange dies der Fall ist, spielt das Verhältnis zwischen den Export- und den Importpreisen eigentlich eine eher unbedeutende Rolle. Russland exportiert zwar weiter in großen Mengen Rohstoffe und erzielt dafür hohe Preise, doch das verbessert die Lage der Wirtschaft nicht.

Eine andere Frage ist, welche Bedeutung die hohen Außenhandelsüberschüsse für den Staatshaushalt haben. Aber auch hier gilt: Der Staat erzielt zwar große Einnahmen. Doch die sozialen Umverteilungsprogramme, die Gehälter der Staatsbediensteten, die Löhne der Arbeiter und Angestellten der Staatsbetriebe und der Sold der Soldaten werden vor allem in Rubel finanziert. Dafür werden die Exporteinnahmen gar nicht benötigt.

Zudem kann Russland wegen der Finanzsanktionen keine Devisenreserven in Dollar oder Euro aufbauen. Selbst der Zugang zu den bestehenden Reserven, etwa jenen der Zentralbank, ist versperrt. Da die Sanktionen auch jederzeit erweitert werden können, sind alle Transaktionen in Dollar oder Euro und alle Konten in diesen beiden Währungen für Russland unsicher. Für Importe können die Deviseneinnahmen ebenfalls nicht verwendet werden. Solange dies so bleibt, spielen die eingenommenen Devisen kaum eine Rolle.

Osteuropa: Die Einschätzungen über die Wirkungen der westlichen Sanktionen gehen weit auseinander. Eine Erklärung ist: Die eigentliche Wirkung wird erst kommen. Wann wird das sein – und wie wirken die Sanktionen dann?

Libman: Das kann man nicht eindeutig beantworten. Die Unterbrechung der Lieferketten wird sich in den kommenden Monaten immer stärker auswirken. Ganze Fabriken werden ihre Produktion einstellen müssen, weil sie keine Komponenten mehr bekommen. Teilweise ist das schon jetzt zu sehen, etwa beim Waggonwerk Tichvin bei Sankt Petersburg, wo seit 2012 mit moderner westlicher Technologie Güterwaggons hergestellt wurden. Die wichtigste Wirkung der Sanktionen wird wie gesagt mittelfristig die Unterbrechung der Lieferketten sein. Wann und in welchem Ausmaß einzelne Betriebe oder Branchen betroffen sein werden, hängt zum einen davon ab, in welchem Umfang sie benötigte Vor- oder Zwischenprodukte aus dem Westen auf Lager haben, zum anderen vom Zugang zu Parallelimporten oder zu geeigneten Ersatzgütern aus anderen Ländern. Eine wichtige Rolle spielt, welcher Anteil der im Fertigungsprozess eingesetzten Komponenten aus dem Ausland kam. Auch die Kreativität der Unternehmer, die versuchen, ihre Geschäfte an die neuen Bedingungen anzupassen, spielt eine Rolle. Sehr komplexe Beziehungen zwischen einzelnen Betrieben gehören zum Wesen der Marktwirtschaft, daher ist es unmöglich vorherzusagen, wie genau die Unterbrechungen der Lieferketten wirken und welche Branchen oder Produktionen betroffen sein werden.

Klar ist nur eines: die Unterbrechungen der Lieferketten werden im Laufe der Zeit massiv zunehmen, und große Bereiche der russischen Wirtschaft zum Erliegen bringen. Welche genau es sein werden und wann genau das passieren wird, das wird erst in den kommenden Monaten klar werden.

Alle Unternehmen hängen von komplexen Lieferketten ab, über die sie selbst keinen Überblick haben, obwohl jeder Ausfall weitreichende Folgen haben kann. Auch die Länder, die Sanktionen einführen, werden davon betroffen sein, dass Lieferketten auf eine oft unvorhersagbare Weise unterbrochen werden. Hier geht es eher um Vorprodukte, da Russland kaum Komponenten für Fertigungsprozesse an Unternehmen in den westlichen Staaten liefert. Ein Beispiel: In der EU wurde fast der gesamte Drahtstahl für die Herstellung von Nägeln, die Europaletten zusammenhalten, aus Russland importiert. Dieser fällt unter die Sanktionen. Anfang April schlugen die deutschen Palettenbauer Alarm: Wird nicht rechtzeitig Ersatz gefunden, kommt die Produktion zum Erliegen, was sich auf alle möglichen Lieferketten auswirkt. Da Russland, im Unterschied zu allen Staaten, gegen die in der Vergangenheit derart weitreichende Sanktionen verhängt wurden, aufs Engste in die Weltwirtschaft integriert war, ist in den komplexen Produktions- und Transportprozessen mit einer Vielzahl solcher Effekte zu rechnen.

Osteuropa: Drei Wege könnten es russländischen Unternehmen ermöglichen, eine Einstellung der Produktion infolge unterbrochener Lieferketten zu umgehen. Der erste ist die Substitution importierter Güter durch solche aus heimischer Produktion? Was ist über die Erfolge dieser Versuche bekannt?

Libman: Es kommt natürlich auf einzelne Wirtschaftszweige an. Vor allem bei Technologiegütern ist es sehr unwahrscheinlich, dass Russland eine Importsubstitution gelingt. Es ist heute grundsätzlich für jedes Land kaum mehr möglich, alle Güter der komplexen Produktionsketten im Technologie- und Hochtechnologie-Bereich vollständig aus eigener Produktion bereitzustellen. Zudem ist das Technologiepotential der UdSSR in den 1990er Jahren verloren gegangen und in den letzten zwei Jahrzehnten nie wiederhergestellt worden. Ohnehin war die Sowjetunion nur in einzelnen Branchen wie der Luftfahrt auf dem Stand der Technik. Die Vorstellung, dass man daran anknüpfen könnte, ist verfehlt, selbst wenn das Wissen reaktiviert werden könnte, wäre es völlig veraltet.

Ein weiterer Grund: Hohe Korruption, ineffiziente und mächtige Bürokratie und ständige Umverteilungskämpfe machen es extrem schwierig, eine wettbewerbsfähige Produktion in Russland aufzubauen. Sicher werden in einzelnen Branchen Güter aus heimischer Produktion Importe ersetzen. Aber dies werden eher Ausnahmen sein und sie werden alle aus dem Low-Tech-Bereich kommen.

Langfristig werden die Sanktionen dazu führen, dass Russlands Wirtschaft ihre Innovationskraft verliert und der Abstand zu den sich ständig weiter modernisierenden Gesellschaften immer größer wird.

Osteuropa: Die anderen beiden Wege sind: Import der benötigten Güter aus anderen Ländern und verdeckter Import über Zwischenhändler in der Türkei oder Zentralasien. Was ist darüber bekannt?

Libman: Darauf werden sich jetzt alle Anstrengungen konzentrieren. Der Parallelimport hat bereits begonnen. Es gibt bereits Einzelhändler, etwa der Onlineversand Ozon, die Unternehmen in Russland Güter anbieten, die es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Auch die Suche nach alternativen Lieferquellen in China und Indien läuft auf Hochtouren. Wie erfolgreich das sein wird, ist allerdings noch unklar. Das liegt daran, dass die Sanktionen ständig erweitert werden. Unternehmen aus China oder potentielle Zwischenhändler aus der Türkei oder Kasachstan müssen mit dem Risiko kalkulieren, dass sie mit Sekundärsanktionen belegt werden. Solange diese Unsicherheit besteht, werden keine alternativen Lieferketten aufgebaut werden. Wenn sich allerdings herauskristallisiert hat, dass die Lieferung bestimmter Güter nach Russland nicht von den USA geahndet wird, dann werden sich neue Handelsbeziehungen etablieren.

Aber auch in diesem Fall sind zwei Aspekte zu bedenken. Erstens: diese Lieferungen werden zu einem deutlich höheren Preis und deutlich ungünstigeren Konditionen erfolgen. Chinesische Unternehmen sind aufgrund der westlichen Sanktionen in einer sehr günstigen Lage, wenn sie die Bedingungen für den Handel mit Russland aushandeln. Dies werden sie nutzen. Zweitens werden auch diese Lieferungen Russland keinen Zugang zu den neusten Technologien gewährleisten. Im Hochtechnologie-Bereich gibt es einfach keine Alternative zu den Lieferungen aus der EU, den USA oder Japan. Russland wird also in einem ineffizienten Produktionsprozess Güter mit begrenzter Wertschöpfung herstellen. Die technologische Rückständigkeit wird sich verfestigen.

Osteuropa: Spielt es bei den divergierenden Einschätzungen zur Lage der russländischen Volkswirtschaft auch eine Rolle, dass Indikatoren unterschiedlich bewertet werden? Wir sehen niedrige Inflationsraten in Russland und leiten daraus ab, dass die Volkswirtschaft stabil ist. Aber haben wir es nicht vielmehr mit einer viel folgenreicheren Deflation zu tun: fehlende Nachfrage, sinkende Investitionen, bald dann steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne?

Libman: Die geringe Inflation in Russland ist tatsächlich kein Zeichen dafür, dass die ökonomische Lage stabil ist. Ebenso wenig wie der starke Rubel ein Zeichen für eine florierende Wirtschaft ist. Deflation ist ein realistisches Szenario. Und die Arbeitslosigkeit wird kommen. Allerdings wird sie verdeckt bleiben. Der Staat wird eine offene Arbeitslosigkeit verhindern. Die Unternehmen werden geringere Löhne zahlen oder Angestellte in den Zwangsurlaub schicken. Der Staat unterstützt die Betriebe, damit die wahre Lage der Wirtschaft nicht offen zu Tage tritt und keine sozialen Konflikte ausbrechen. Viele Menschen werden zu geringem Lohn arbeiten, dafür aber auch wenig tun. Wie sagte man in der Sowjetunion: „Sie tun so, als ob sie uns bezahlen würden, und wir tun so, als ob wir arbeiten würden.“

Osteuropa: Gängige ökonomische Kennziffern haben also für Russland ihren Aussagewert teilweise verloren?

Libman: Absolut! Man muss mit der Interpretation von Daten aus Russland sehr vorsichtig sein. Russland ist zwar weiter eine Marktwirtschaft – und dies ist vielleicht die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Anpassung an die Sanktionen. Aber es handelt sich um eine Marktwirtschaft unter besonderen Bedingungen. Die Interpretation von Indikatoren, die für „normale“ Marktwirtschaften entwickelt wurden, muss angepasst werden. Indikatoren, die „normalerweise“ Zeichen einer positiven Entwicklung sind, können in Russland etwas ganz anderes bedeuten.

Neben den genannten Beispielen wie den Zahlen zum Arbeitsmarkt könnte dies in Zukunft auch für die Indikatoren des Kapitalmarkts gelten. Es ist nicht auszuschließen, dass es in den kommenden Monaten und Jahren eine sehr positive Entwicklung am russländischen Aktienmarkt geben wird. Doch dies wird kein Zeichen einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung sein – ganz im Gegenteil! Man kennt das aus anderen Staaten, die unter Sanktionen stehen, etwa dem Iran. Die Aktienkurse werden nur deswegen steigen, weil Investoren wegen der Sanktionen keine Möglichkeit zu anderen Formen der Kapitalanlage haben. Eine Aufhebung der Sanktionen würde dann sogar zu Kursstürzen an der Moskauer Börse führen, obwohl dies für die Wirtschaft ein positives Signal wäre.

Falls der Staat in Zukunft stärker in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen wird, verlieren die Kennzahlen noch mehr an Aussagekraft. Einige Beobachter halten es für unausweichlich, dass dies so kommen wird, andere gehen davon aus, dass der marktwirtschaftliche Kern der russländischen Volkswirtschaft erhalten bleiben wird. Auch die wachsende Schattenwirtschaft schmälert die Verlässlichkeit der offiziellen Kennzahlen.

Osteuropa: Eine solche Entkopplung von Realwirtschaft und Kapitalmarkt kennt man ja auch aus dem Westen. Aber bei der Bewertung der Kennziffern aus Russland muss man dennoch besonders vorsichtig sein …

Libman: Ja! Kennzahlen aus Russland sind aufgrund verschiedener Faktoren besonders vorsichtig zu bewerten. Es bedarf dringend zusätzlicher Informationsquellen wie qualitative Beobachtungen, Gespräche mit Bürgern und Unternehmern. Kurzum: Es werden Ökonomen benötigt, die nicht nur mit den gängigen Modellen rechnen können, sondern Landeskenntnisse haben. Davon gibt es nur noch sehr wenige, wie eine Bestandsaufnahme der sozialwissenschaftlichen Osteuropaforschung gezeigt hat.[1] Ein weiteres Problem ist, dass der Zugang nach Russland und Kooperation mit Wissenschaftlern in Russland jetzt durch die Sanktionen des Westens und durch die Repressionen des Kreml jetzt stark eingeschränkt ist.

Hinzu kommt, dass der Staat heute weniger statistische Daten veröffentlicht als noch vor wenigen Monaten. Und es ist nicht auszuschließen, dass die veröffentlichten Statistiken mittlerweile manipuliert werden. Der wichtigste Grund, warum Russland gerade weniger statistische Daten veröffentlicht, scheint momentan zu sein, dass vermieden werden soll, dass sich aus diesen Angriffspunkte für Sanktionen ablesen lassen.

Osteuropa: Eine implizite Annahme aller Diskussionen über die Wirkungen der Sanktionen ist: Je schlechter der Zustand der russländischen Volkswirtschaft, desto schlechter ist dies für das Regime. Die Menschen – oder relevante Gruppen der Gesellschaft – wenden sich ab, und dann stürzt der Diktator. Ist das eine realistische Annahme?

Libman: Diese Annahme ist aus meiner Sicht realitätsfremd. Zumindest in der Vergangenheit haben wir dergleichen als Folge von Sanktionen kaum beobachten können. Ganz im Gegenteil führten Sanktionen gegen autoritäre Staaten in vielen Fällen zu einer Stabilisierung des Regimes. Das hat zwei Ursachen.

Kurzfristig können Diktaturen Sanktionen sehr gut als feindlichen Akt darstellen, der sich gegen die gesamte Gesellschaft richtet. Die Menschen scharen sich dann hinter dem Regime. Das ist sehr gut in einer Studie von Julia Grauvogel und Christian von Soest beschrieben.[2] In Russland präsentieren die Vertreter des Regimes den Krieg gegen die Ukraine vom ersten Tag an als Krieg gegen den Westen und die NATO, deren Absicht es sei, Russland in die Knie zu zwingen. Die westlichen Sanktionen passen perfekt zu dieser Darstellung, und viele Russen sind mittlerweile tatsächlich eher davon überzeugt, dass Putin recht hat und dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt ist, ihn zu unterstützen.

Osteuropa: Kann man das verlässlich sagen? Über die Zuverlässigkeit der soziologischen Umfragen unter repressiven Bedingungen gibt es ja durchaus eine Debatte …

Libman: Das ist eine sehr berechtigte Frage. Man muss bei der Interpretation von Daten zur öffentlichen Meinung sehr vorsichtig sein. Es gibt mehrere Probleme: der Anteil derjenigen, die eine Teilnahme an Umfragen verweigern, ist gestiegen. Zudem ist unklar, ob angesichts des politischen und sozialen Drucks wahrheitsgemäße Antworten gegeben werden. Schließlich hat sich das Problem, dass die Formulierung der Frage die Antwort beeinflusst, verschärft. Viele Formulierungen sind schlicht nicht mehr zugelassen. Es macht einen Unterschied, ob man nach der Haltung zu einer „militärischen Spezialoperation“ fragt, also zu einer Aufgabe, die Militärspezialisten erledigen, oder nach der Meinung zu einem Krieg, in den die gesamte Gesellschaft involviert ist.

Es gibt jedoch Wege, auch unter solchen repressiven Bedingungen Daten zu sammeln. Zum einen qualitative ethnographische Studien. Erste Ergebnisse solcher Forschungen gibt es bereits.[3] Zum anderen komplexere statistische Methoden, etwa sogenannte List Experiments, die es erlauben, Informationen über die wahren Präferenzen der Menschen auch unter schwierigen Bedingungen zu erhalten. Auch hier gibt es bereits erste, allerdings noch sehr eingeschränkte Studien.[4] Sie deuten alle darauf hin, dass die Menschen in Russland das Narrativ übernehmen, es handele sich um einen „Verteidigungskrieg gegen den Westen“. Dennoch muss man im Auge behalten, dass wir noch nicht viel über die Haltung der russländischen Gesellschaft zu diesem Krieg wissen.

Osteuropa: Und der zweite Grund, warum Sanktionen autoritäre Herrschaft häufig nicht schwächen, sondern sogar stabilisieren?

Libman: Sanktionen machen Unternehmen und Bürger abhängiger von dem Regime. Das ist in Russland bereits jetzt zu beobachten und wird sich weiter verstärken: Viele Betriebe und Unternehmen können nur deswegen überleben, weil sie direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden; viele Menschen werden ihre Ersparnisse verlieren und umso mehr von ihren Löhnen und Gehältern abhängig sein. Da der Privatsektor wegen der Sanktionen schrumpft, sind auch diese Menschen vom Staat abhängig.

Sie werden mit dem Regime unglücklich sein, aber keine Möglichkeit haben, sich dagegen zu wehren und es daher nolens volens unterstützen. Auch führen weniger Kontakte mit dem Westen dazu, dass viele Menschen in Russland sich kein Bild mehr davon machen, wie eine Alternative zu dem in ihrem Land herrschenden Regime aussehen könnte.

Das bedeutet auch: Falls man tatsächlich Veränderungen in Russland will, müssen unbedingt die zwischenmenschlichen Kontakte und der Dialog mit der Zivilgesellschaft aufrechterhalten werden. Das wird nicht zu schnellen Änderungen führen – aber ohne diese Kontakte und den Dialog wird es auf keinen Fall irgendwelche positiven Veränderungen geben.

Osteuropa: Ist das nicht die alte „Wandel durch Handel“-These in neuem Gewand? Drei Jahrzehnte lautete das Mantra: Je besser es den Menschen geht und je intensiver die Kontakte mit dem demokratischen Westen, desto besser sind sie gegen autokratische Herrschaft gefeit. Diese Annahme war schon lange nicht mehr zu halten, jetzt kehrt sie in Gestalt der Aussage zurück, dass Sanktionen den gegenteiligen Effekt von dem haben, was sie bezwecken sollen Hat nicht der Zusammenbruch des Kommunismus das Gegenteil gezeigt? Nicht die Masse hat den Umbruch herbeigeführt, sondern die Eliten waren es müde, die Massen mit Lüge und Zwang unter Kontrolle zu halten…

Libman: Beim Zusammenbruch des Kommunismus ging es meines Erachtens nicht in erster Linie um die Präferenzen der Eliten oder der Massen, sondern um das Wirtschaftssystem. Die Planwirtschaft sowjetischer Prägung war wegen fundamentaler Funktionsschwächen von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Dort, wo die kommunistische Partei die Planwirtschaft aufgegeben und mit Erfolg eine Marktwirtschaft eingeführt hat, ist sie bis heute an der Macht. China ist das eindrücklichste Beispiel. Da Russland eine Marktwirtschaft ist, führt meines Erachtens nach der Vergleich mit der Sowjetunion nicht sehr weit.

Natürlich ist die Vorstellung naiv, dass Kontakte mit dem Westen dazu führen, dass die Menschen sich für Demokratie und Freiheit einsetzen. Teilweise ist das Gegenteil der Fall. Nach meinem Dafürhalten muss man aber die Frage so stellen: Kann es ohne Kontakte mit dem Westen zu einem Wertewandel kommen? Mir ist keine Gesellschaft bekannt, die sich aus der Isolation heraus von selbst verwandelt hätte. Jene Menschen, die in Russland prowestlich gesinnt sind, haben zweifellos eine schwere Niederlage erlitten. Bricht aber nun der Westen die Kontakte zu ihnen ab, werden sie erst recht marginalisiert.

Und wenngleich der entscheidende Faktor beim Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion die dysfunktionale Planwirtschaft war, so gilt doch auch: Große Teile der sowjetischen Intelligencija sahen sich als Teil einer globalen Gemeinschaft oder wussten zumindest, dass diese globale Gemeinschaft ihnen offen steht. Die meisten sowjetischen Wissenschaftler waren keine dezidierten Demokraten, aber sie haben sich als Teil der globalen, progressiven Wissenschaft wahrgenommen, die gewisse Werte und Normen teilt. Exemplarisch ist der Atomphysiker Andrej Sacharov, der zum bekanntesten Bürgerrechtler der Sowjetunion wurde. Ohne diese Wahrnehmung wäre die Öffnungsbewegung der sogenannten Šestidesjatniki in den 1960er Jahren nicht möglich gewesen. Und diese hat auch Gorbačev stark beeinflusst. Kurzum, ich mache mir große Sorgen, dass die westlichen Sanktionen ein kurzfristiges politisches Ziel verfolgen, das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erreicht wird, langfristig aber jede Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels in Russland zunichtemachen. Das ungewollte Ergebnis wäre ein Russland, das sich zu einer dauerhaften Quelle von Instabilität in Europa entwickelt.

Das Gespräch führte Volker Weichsel am 4.7.2022.

 


[1]   Alexander Libman, Niklas Panzer: Geschichte, Slawistik und der Rest. Osteuropaforschung in Deutschland, in: Osteuropa, 7/2021, S. 133–153. – Siehe auch: Alexander Libman: Krise oder Blüte? Sozialwissenschaftliche Osteuropaforschung, in: Osteuropa, 1–2/2020, S. 179–191.

[2]   Julia Grauvogel, Christian von Soest: Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes, in: European Journal of Political Research, 4/2014, S. 635–653, <https://ejpr.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/1475-6765.12065>.

[3]   Vojti vo mrak i naščupat’ v nem ljudej. Počemu rossijane podderživajut vojnu? Issledovanie Šury Burtina, <https://meduza.io/feature/2022/04/24/voyti-vo-mrak-i-naschupat-v-nem-lyudey>.

[4]   Philip Chapkovski, Max Schaub: Solid support or secret dissent? A list experiment on preference falsification during the Russian war against Ukraine, in: Research & Politics, 2/2022.

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