Brutalisierung und Repression
Russlands Krieg und der Wandel der Öffentlichkeit
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Abstract in English
Abstract
In Russlands autoritär strukturierter Öffentlichkeit gab es lange noch Nischen, in denen Kritik an der politischen Führung geäußert werden konnte. Das hat sich seit dem Überfall auf die Ukraine geändert. Kritiker des Putin-Regimes wurden kriminalisiert und exiliert, Sanktionen gegen freie Rede verschärft, westliche digitale Plattformen verdrängt und der öffentliche Diskurs von jedem demokratischen normativen Ideal abgekoppelt. In den Medien ist eine Verrohung zu beobachten. Alle öffentlichen Räume sind dem Herrschaftsanspruch des Autokraten unterworfen, Kritik an Putin ist tabu. An nachgeordneten Funktionsträgern bleibt öffentliche Kritik jedoch möglich. Sie trägt dazu bei, die Autokratie mit Informationen zu versorgen und die Effizienz des Herrschafts- und Repressionsapparats zu steigern.
(Osteuropa 1-3/2025, S. 351364)
Volltext
Am 24. Februar 2022 befahl Russlands Autokrat Vladimir Putin den Großangriff auf die Ukraine. Für die Bürger Europas markierte der Überfall, in den Worten des Historikers Timothy Garton Ash, das Ende der „Nach-Mauer-Zeit“, also jener drei Jahrzehnte der Demokratisierung und Globalisierung, die durch den Fall der Berliner Mauer 1989 eingeleitet worden waren. Im Februar 2022 brachte Russland den zwischenstaatlichen Krieg „von einem Ausmaß und Grauen, wie es ihn in Europa seit 1945 nicht mehr gegeben hatte“, zurück nach Europa. [1] Die vollständige Invasion stellt ein Schlüsselereignis dar, das Veränderungen im politischen System Russlands und in der Struktur der Öffentlichkeit massiv beschleunigte. Die Anfänge dieses Wandels lassen sich jedoch bis in die frühen 2010er Jahre zurückverfolgen.
Bereits damals herrschte in Russland ein autoritäres Regime. Auch in einer Autokratie wie der in Russland besteht die Öffentlichkeit aus vielen sich überlappenden Teilöffentlichkeiten. In der russländischen Medienlandschaft gab es Nischen, in denen Kritik an der Führung geäußert werden konnte.[2] In den 2010er Jahren bestand diese Öffentlichkeit aus drei Arten von Teilöffentlichkeiten:
- unkritische. In diesen Teilöffentlichkeiten zirkulierten keine kritischen Aussagen, es sei denn, die Kritik war zuvor von Präsident Putin persönlich formuliert worden. Unter unkritischen Teilöffentlichkeiten sind beispielsweise die drei führenden Fernsehsender Pervyj Kanal, NTV und Rossija 1 sowie ihr jeweiliges Publikum zu verstehen. Unkritische Teilöffentlichkeiten sind das mit Abstand reichweitenstärkste und mächtigste Segment der Öffentlichkeit im autokratischen Russland.
- umsetzungskritische. In diesen Teilöffentlichkeiten war Kritik an Staatsdienern, Amtsträgern und Politikern auf den Ebenen unterhalb des Kreml und der Präsidialadministration möglich, ja sogar erwünscht. In der Öffentlichkeit wurden die Preise der lokalen Wasser- und Energieversorgung, das Versagen der Müllabfuhr, misslungene oder gescheiterte Infrastrukturprojekte oder die mangelhafte Bekämpfung von Bandenkriminalität und organisiertem Verbrechen angeprangert. Kritik am Kreml war jedoch tabu. So wurden für alle Missstände lokale Politiker und Verwaltungsmitarbeiter verantwortlich gemacht, während Kritik am Kreml konsequent unterblieb, obwohl viele der Missstände landesweit herrschten und auf strukturelle Versäumnisse des Machtzentrums in Moskau zurückzuführen waren. Zu diesen umsetzungskritischen Teilöffentlichkeiten gehörten Zeitungen wie Kommersant”, Moskovskij Komsomolec, Webseiten wie gazeta.ru sowie der Facebook-Kommentarbereich der Nachrichtensendung Vremja des Pervyj Kanal;
- und schließlich führungskritische. Diese Teilöffentlichkeiten waren sehr klein, ihr Publikum schrumpfte stetig.[3] Zu diesen Teilöffentlichkeiten zählten die Novaja Gazeta, der Radiosender Echo Moskvy und die Nachrichtenwebseite Meduza.io. Hier war Kritik am Autokraten Putin möglich.
Dadurch, dass führungskritische Nischen existierten, unterschied sich die russländische Öffentlichkeit strukturell von der Öffentlichkeit in anderen autoritären Regimen wie China, die lediglich umsetzungskritische Teilöffentlichkeiten zuließen, und Nordkorea oder Turkmenistan, die jede Form von Kritik unterdrücken. Die Existenz dieser Nischen bedeutete allerdings nicht, dass damit eine „Demokratisierung“ von Politik und Öffentlichkeit verbunden gewesen wäre. Politikwissenschaftler stuften Russland damals als ein „pseudodemokratisches“ oder „semikompetitives autokratisches System“ ein.[4]
Nach der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens sowie der Bildung unabhängiger Nationalstaaten setzten sich oft nicht demokratische Kräfte durch, die ein demokratisches politisches System hätten durchsetzen können, sondern es entstanden „hybride“ autokratische Systeme, die sich auf pseudodemokratische Institutionen wie semikompetitive Wahlen, kooptierte Parlamente und eine pseudodemokratische Öffentlichkeit stützten, in der es Nischen für Kritik an der Führung gab. Für das Jahr 1995 zählten die Politikwissenschaftler Stephen Levitsky und Lucan Way 33 „kompetitiv autoritäre“ Regime. Damit gab es in der postkommunistischen Welt und in Entwicklungsländern mehr autoritäre Regime als „konsolidierte Demokratien“.[5] Die kompetitiv autoritären Herrschaftsordnungen erwiesen sich als überraschend stabil. Im Jahr 2010 existierte mehr als ein Dutzend dieser Regime bereits 15 Jahre.[6]
Für semikompetitive Autokratien, welche die Legitimität ihrer Herrschaft zumindest teilweise von manipulierten Wahlen ableiten, sind führungs- und umsetzungskritische Teilöffentlichkeiten höchst funktional.[7] Denn sowohl kritische als auch unkritische Teilöffentlichkeiten bergen nicht nur Risiken für autokratische Herrscher, sondern nützen diesen auch. Reichweitenstarke unkritische Teilöffentlichkeiten wie die zentralen Fernsehsender erlauben es dem Regime, maßgeschneiderte Botschaften an ein breites Publikum zu übermitteln. Doch genießen diese Kanäle in der Bevölkerung nur bedingt Glaubwürdigkeit, da sie ausschließlich unkritische Botschaften vermitteln.[8] Sie sind autokratischen Herrschern insofern wenig nützlich, als ihre Berichterstattung kaum als Grundlage für notwendige politische Entscheidungen dienen kann. Denn das Bild, das sie zeigen, ist von der sozialen Wirklichkeit im Lande weitgehend losgelöst. Dagegen stoßen umsetzungskritische Teilöffentlichkeiten in diese Lücke, indem sie etwa auf soziale Probleme hinweisen und dem Herrschaftszentrum glaubwürdige Informationen über die Leistungsbilanz untergeordneter Ebenen des Herrschaftsapparates liefern. Weil der Autokrat dadurch die Tätigkeit von Amtsträgern beurteilen und sanktionieren kann, tragen diese Teilöffentlichkeiten dazu bei, der Bevölkerung das Bild einer politischen Führung zu vermitteln, die sich der Probleme annimmt.
Wie in anderen semikompetitiven Autokratien verfolgte die herrschende Elite auch in Russland vor 2022 nicht das Ziel, alle scheindemokratischen Institutionen abzuschaffen oder vollständig zu kontrollieren. Vielmehr strebte der Kreml danach, jenes Maß an Unabhängigkeit der Fassaden-Institutionen zuzulassen, das für das Ziel des eigenen Machterhalts nützlich war. So tarierte der Kreml auch die Reichweite der drei Segmente der Öffentlichkeit (unkritisch, umsetzungskritisch, führungskritisch) so aus, dass diese Teilöffentlichkeiten zur Stabilisierung des Regimes beitrugen.[9]
Um die Zahl führungskritischer Medien zu kontrollieren und ihre Reichweite zu begrenzen, nutzte der Kreml seinen Einfluss auf Staatsunternehmen und Wirtschaftseliten, welche die Eigentumsrechte an Medien erworben hatten. So wurden im März 2013 auf Druck der Besitzer die Redaktionen der Internetplattformen lenta.ru und gazeta.ru, die bis dahin als führungskritisch gegolten hatten, neu besetzt.[10] Gleichzeitig durften andere Medien wie der reichweitenstärkste „oppositionelle“ Radiosender Echo Moskvy weiterhin die Führung kritisieren. Echo Moskvy befand sich seit Anfang der 2000er Jahre zu zwei Drittel im Besitz einer Tochterfirma des staatseigenen Gasmonopolisten Gazprom. Insofern wäre es dem Kreml jederzeit möglich gewesen, die Redaktion auszutauschen. Im Kreml entschied man sich offensichtlich dagegen.[11] Der Chefredakteur Aleksej Venediktov, der den Sender von 1998 bis zu seiner Schließung 2022 geleitet hatte, war über mehrere Verbindungen mit der Herrschaftselite vernetzt. Seit 2016 war Venediktov Mitglied der Gesellschaftskammer der Stadt Moskau und zumindest bis zum Februar 2022 Mitglied im Gesellschaftsrat des russländischen Verteidigungsministeriums.[12]
Im demokratischen Ausland wird die komplexe Funktionslogik von kooptierten Institutionen in Autokratien – wie etwa auch der kooptierten führungskritischen Öffentlichkeit Russlands – mitunter sogar von professionellen Beobachtern nicht in voller Tiefe verstanden. So berichtete Radio Free Europe im März 2022, nachdem Echo Moskvy auf Beschluss des eigenen Direktoriums seinen Sendebetrieb eingestellt hatte, von einem „Durchgreifen der Regierung“ gegen eine der „letzten unabhängigen Rundfunkanstalten Russlands“.[13] Weder gab es Anzeichen dafür, dass sich die hier als „unabhängig“ bezeichnete Redaktion gegen diesen Beschluss gewehrt hätte, noch dass das Regime die Schließung gewaltsam, etwa durch den Einsatz von Sicherheitskräften durchgesetzt hätte, wie dies zu Beginn der Putin-Ära mit der Unterwerfung des Fernsehsenders NTV geschehen war.[14]
Russlands autokratische Öffentlichkeit war ein höchst stabiles System. Ziel der Herrschaftselite war es, die Reichweiten der drei Arten von Öffentlichkeit so auszutarieren, dass der Nutzen der pseudo-pluralistischen, autokratischen Öffentlichkeit für die autokratische Führung maximiert und die Risiken minimiert werden konnten.
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit in Russland
Unmittelbar nach Beginn des Großangriffs auf die Ukraine beschleunigte sich der Strukturwandel der autoritären Öffentlichkeit in Russland. Es lassen sich sechs Entwicklungen unterscheiden:
Exilierung und Kriminalisierung führungskritischer Medien
In den ersten Tagen und Wochen nach der Invasion wurde das führungskritische Segment in Russlands Öffentlichkeit weitgehend ausgeschaltet. Im März 2022 stellten alle reichweitenstarken führungskritischen Medien auf Druck des Kreml ihre Arbeit in Russland ein. Spätestens ab dem Sommer 2022 gab es keine „unabhängigen“ Medien mehr, die offiziell noch in Russland tätig waren.[15] Hunderte von Medienorganisationen lösten sich auf oder produzierten ihre Inhalte nun im Exil.[16] Webseiten und andere Verbreitungskanäle dieser Medien wurden in Russland blockiert. Auch ausländischen Medien mit einem russischsprachigen Dienst wie der Deutschen Welle wurde die Lizenz entzogen. Diese Verschärfung der Repressionen gegen Medien endete nicht im Sommer 2022, sondern ging kontinuierlich weiter.
Ab 2017 waren viele Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden. 2022 und 2023 wurden immer mehr als „unerwünschte Organisationen“ gebrandmarkt. Diese repressive Maßnahme geht weit über die bloße Zensur der Inhalte im Inland hinaus.[17] Jede Zusammenarbeit mit „unerwünschten“ Medien – sei es bei einer Straßenumfrage, einem Interview oder durch die Übergabe von Informationen – kann strafrechtlich verfolgt werden. Bei wiederholten Verstößen sind bis zu sechs Jahre Haft möglich.[18] Im Herbst 2024 befanden sich auf der Liste der „unerwünschten Organisationen“ u.a. Projekt Media (seit 15.7.2021), Bellingcat (13.7.2022), The Insider (13.7.2022), Meduza (25.1.2023), TV Dožd’ (21.7.2023) und Moscow Times (3.7.2024).[19] Jeglicher Kontakt von Bürgerinnen und Bürgern mit diesen Medien wurde kriminalisiert. Die drohenden drakonischen Strafen schränken die Arbeitsbedingungen der Journalisten erheblich ein und erschweren es, glaubwürdige Informationen über den Alltag, die Gesellschaft und Politik zu recherchieren und zu veröffentlichen.
Gleichzeitig duldet das Regime Nischen, in denen regimeloyale Kriegsblogger,[20] Duma-Abgeordnete oder prominente Medienfiguren wie der Talkshow-Moderator Vladimir Solov’ev öffentlich beklagen dürfen, dass Russlands Truppen die Front nicht beherrschen, die „militärische Spezialoperation“ am seidenen Faden hängt oder die Politik der Russländischen Zentralbank verfehlt ist. Jede dieser Einlassungen muss hinterfragt und eingeordnet werden: Wer spricht, welche Stoßrichtung hat die Kritik und über welche Verbindung zum Kreml verfügt der Sprecher? Der Molotov-Enkel Vjačeslav Nikonov etwa, einer der drei Moderatoren der mehrstündigen, täglichen Talkshow Bol’šaja igra (Großes Spiel), ist gleichzeitig Duma-Abgeordneter der Partei der Macht Edinaja Rossija und Vorsitzender der Stiftung Russkij mir, Dekan der Fakultät für Staatsverwaltung der Lomonosov-Universität und Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften.
Die meisten, mitunter wütenden Äußerungen der Kriegsblogger über das Versagen der russländischen Armee sind als umsetzungskritische Äußerungen für das Regime höchst funktional. Es ist falsch, diese Kritik als führungskritisch oder gar als ein Indiz für den bevorstehenden „Zusammenbruch der Heimatfront“ zu interpretieren, wie es der amerikanische Russlandexperte S. Frederick Starr macht.[21] Die Blogger liefern semiunabhängige Informationen über untere Ebenen der zivilen und militärischen Hierarchien und tragen dazu bei, die Verantwortung für militärische Misserfolge vom Autokraten Putin auf niedere Ränge zu lenken. Um Risiken zu minimieren, können dennoch gelegentlich einzelne Akteure in ihrer Reichweite beschränkt oder zum Schweigen gebracht werden, wenn sich deren Kritik explizit oder zu beleidigend gegen den Kreml richtet. So wurde im Sommer 2024 der Ex-Geheimdienstler und Militärblogger Igor’ Girkin, der unter seinem nom de guerre Igor’ Strelkov bekannt wurde und der im Frühjahr 2014 eine Schlüsselrolle bei der Entfachung des Krieges in der Ostukraine spielte, zu vier Jahren Haft wegen Extremismus verurteilt. Diese Verhaftung blieb die Ausnahme. Viele Kriegsblogger sind weiter „auf Sendung“.
Repression freier Rede: Gefängnisstrafen für Verbrechen des Wortes
Ein wichtiges repressives Signal an die eigenen Bürger setzte das Putin-Regime am 4. März 2022, unmittelbar nach Beginn der Invasion, mit der Verschärfung der Gesetzgebung zur Bekämpfung vermeintlicher „Fake News“.[22] Der entsprechende Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches sieht nun bis zu 15-jährige Haftstrafen für die Verbreitung von „wissentlich falschen“ Äußerungen über die russländische Armee und Staatsorgane vor. Ebenso wichtig wie die Verschärfung der gesetzlichen Grundlagen ist die veränderte Rechtsprechung. Immer mehr Proteste, kritische Äußerungen und schlichte Tatsachenbehauptungen werden nun als Tatbestände mit besonders hohen Strafmaßen abgeurteilt wie „Rechtfertigung von Terrorismus“, „Hochverrat“ oder „Extremismus“.[23] Drakonische Urteile sollen eine Signalwirkung entfalten. So zählte die Menschenrechtsorganisation OVD-Info im Herbst 2024 in Russland (ohne die besetzten und annektierten Gebiete in der Ukraine) mehr als 1000 anhängige Strafverfahren wegen kritischer Äußerungen und Proteste gegen die „militärische Spezialoperation“. Über einige besonders schockierende Verurteilungen berichteten Exilmedien, russische Dienste von Auslandsmedien, die Nachrichtenagentur TASS sowie Staatsmedien. Diese Berichte sind ambivalent: Einerseits klären sie über den repressiven Charakter des Regimes auf, andererseits sind sie Voraussetzung für die abschreckende Wirkung der Repressalien, da sie zeigen, wie das Regime mit Andersdenkenden umgeht. Großes Aufsehen erregte der Fall eines Moskauers, der zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil er in einer Straßenumfrage für Radio Free Europe im Juli 2022 über die Kriegsverbrechen der russländischen Armee in Buča gesprochen hatte.[24] Oder der Skandal um den alleinerziehenden Vater Aleksej Moskalev, der zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde, nachdem seine 12-jährige Tochter in der Schule ein Bild gemalt hatte, auf dem „Nein zum Krieg“ zu lesen war.[25] Während der Untersuchungshaft wurde Moskalev zwei Monate in eine etwa zwei Quadratmeter große Zelle gesperrt und das Mädchen in ein Kinderheim gebracht. Da Russlands Regierung keine Vertreter der OSZE oder anderer internationaler Organisationen als unabhängige Prozessbeobachter mehr zulässt, ist es kaum möglich, die Verbreitung der Folter an politischen Gefangenen zu dokumentieren.[26] Die UN-Sonderberichterstatterin für die Menschenrechtslage in der Russländischen Föderation geht in ihrem Bericht vom Oktober 2024 davon aus, dass Folter nach Beginn der Invasion in der Ukraine „zu einem staatlich sanktionierten Instrument der systematischen Unterdrückung geworden“ sei, das von Strafverfolgungsbehörden, Geheimdiensten und Militär eingesetzt werde.[27] Gut dokumentiert sind Foltermethoden wie Scheinhinrichtung, Vergewaltigung, verlängerte Einzelhaft, Strafpsychiatrie und der Einsatz von Elektroschocks an Genitalien.[28] In den besetzten ukrainischen Gebieten haben Russlands Besatzungsbehörden nach Recherchen der New York Times vom Oktober 2024 ein System aufgebaut,
„das aus einem Gulag von über 100 Gefängnissen, Haftanstalten, informellen Lagern und Kellern besteht, das an die schlimmsten sowjetischen Exzesse erinnert.“[29]
Während das Regime versucht, systematisch gesammelte Informationen über das Ausmaß und die Verbreitung von Folter im Land geheim zu halten, verbreiten die Behörden im Einzelfall gezielt grausame Folterpraktiken in der Öffentlichkeit. Ziel ist Abschreckung. So wurde nach dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall im März 2024 in einem Vorort von Moskau ein Video veröffentlicht, in dem ein Verdächtiger in Haft von seinen Aufsehern gezwungen wurde, sein eigenes, kurz zuvor abgeschnittenes Ohr in den Mund zu nehmen und möglicherweise zu essen.[30] Diese Beispiele illustrieren, mit welcher Brutalität Russlands Führung unterdessen vorgeht und welche Bedeutung Öffentlichkeit hat, um die Reichweite und den Effekt von Repression zu steigern.
Verdrängung und Ausschaltung westlicher Plattformen
Ein drittes Merkmal des Strukturwandels der Öffentlichkeit in Russland ist die Verdrängung westlicher Plattformen. Vor dem 24. Februar 2022 konnten die Nutzer in der Regel zwischen zwei Plattformen vergleichbarer Funktionalität wählen: Eine Plattform stand mittelbar unter Kontrolle des Kreml, während die andere von Unternehmen aus den USA betrieben wurde. So stand der amerikanischen Suchmaschine Google die Suchmaschine Yandex gegenüber, an der die Sberbank die Mehrheitsanteile hielt.[31] Über die Sberbank hatte der Kreml indirekten Einfluss auf Yandex. Das Gegenstück zu Google News war Yandex News. Facebook stand Vkontakte gegenüber, das kremlnahe Eigentümer kontrollierten.[32] Bei Vkontakte war Vladimir Kirienko, der Sohn des Putin-Vertrauten und stv. Leiters der Präsidialverwaltung, Sergej Kirienko, Vorstandsvorsitzender.[33] Als Alternative zu YouTube warb RuTube um die Gunst der Nutzer, allerdings mit wenig Erfolg. Auch Alternativen zur Mikroblogging-Plattform Twitter und dem visuell ausgerichteten Netzwerk Instagram kämpften um Marktanteile, darunter die sozialen Netzwerke Odnoklassniki[34] (Klassenkameraden) und Moj Mir (Meine Welt) sowie der von Pavel Durov entwickelte Messenger-Dienst Telegram. Mit dem Kurzvideo-Dienst TikTok war ein soziales Netzwerk aus China sehr erfolgreich.
Mit Beginn des großflächigen Angriffskriegs verschärfte der Kreml seinen Kurs gegen die westlichen Plattformen. Im März 2022 erklärte ein Moskauer Gericht Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram, zur „extremistischen Organisation“ und verhängte ein Verbot. Twitter wurde zwar nicht als „extremistische Organisation“ eingestuft, aber wie Facebook und Instagram von der Aufsichtsbehörde Roskomnadzor gesperrt.[35] In den Monaten danach tolerierte der Kreml es zunächst, dass etliche Bürgerinnen und Bürger in Russland die westlichen Plattformen über VPN-Dienste weiter nutzten. Erst 2023 und 2024 schränkte man den Zugang zu VPN zunehmend ein, immer wieder gelangten Gerüchte an die Öffentlichkeit, dass ein vollständiges Verbot dieser Dienste kurz bevorstehe.[36] Vorsichtiger ging der Kreml zunächst mit Google und dessen Service YouTube um. Experten vermuteten, dass dies damit zusammenhängt, dass es für viele Dienste von YouTube, etwa für das Betriebssystem Android, kein funktionierendes russisches Pendant gibt. Ein Verbot hätte gravierende Einschränkungen für die eigene Bevölkerung und ein potentielles Protestpotential bedeutet. Es scheint so, als hätten russländische Plattformen wegen der westlichen Sanktionen zunächst Schwierigkeiten gehabt, technische Kapazitäten für ein alternatives Video-Sharing Portal aufzubauen. VK erhielt erhebliche Mittel, um seinen Dienst VK Video auszubauen. Dennoch ist YouTube, wenn auch verlangsamt, im Februar 2025, während diese Zeilen entstehen, in Russland noch verfügbar. Und das, obwohl YouTube viele kremltreue Kanäle von seiner Plattform entfernt hatte. Auch Google bot viele seiner Dienste, unter anderem die Suchfunktion, weiterhin in Russland an. Allerdings hatte die russländische Tochtergesellschaft von Google am 12. September 2022 Insolvenz angemeldet, nachdem die Behörden die Bankkonten der Firma gesperrt hatten. Im Oktober 2024 wurde Google zu einer Geldstrafe von 19 Quintilliarden Euro verurteilt – eine bizarre Summe, die nach Berechnungen eines Fachmagazins dem Unternehmensgewinn von 260 Trilliarden Jahren entspricht.[37] Im Dezember 2024 wurde der Zugang zu YouTube offenbar so gedrosselt, dass der Datenabruf binnen weniger Tage um 80 Prozent schrumpfte.[38] Das Unternehmen Yandex, das unter anderem die Suchplattform Yandex betreibt, wurde nach der vollständigen Invasion in einen internationalen und einen nationalen Teil aufgespalten. Der nationale Unternehmensteil, der die Aktivitäten in Russland verantwortet, wurde im Februar 2024 an ein Konsortium aus kremlloyalen Investoren veräußert. Wie die ehemalige Unternehmensführung betonte, nahm man bei dieser – vom Kreml ausdrücklich begrüßten – Transaktion einen Abschlag von etwa 50 Prozent des Marktwerts in Kauf.[39]
Beobachter gehen davon aus, dass dieser Prozess der Verdrängung und Ausschaltung westlicher Plattformen anhält und es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Nutzer nur noch aus Internet-Plattformen wählen können, deren Algorithmen und Inhalte unter direkter Kontrolle des Kreml stehen.[40] Die vom Kreml in dieser Hinsicht verfolgte Strategie ist offensichtlich: Die Bevölkerung soll in kleinen Schritten der Nutzung der westlichen Plattformen entwöhnt und auf Plattformen umgeleitet werden, die der Kreml kontrolliert, ohne dass es zu harschen Einschnitten kommt, an denen sich Unzufriedenheit entzünden könnte.
Lösung der Öffentlichkeit von demokratischen Idealen
Der nahezu vollständige Verlust zentraler, demokratischer Normen öffentlicher Kommunikation wie Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Kohärenz, Reflexivität und Zwanglosigkeit ist die vierte wichtige Entwicklung.[41] Während die Herrschaftseliten diese Normen bereits in den 2010er Jahren regelmäßig verletzten, beschleunigte sich der Niedergang dieser Ideale demokratischer Öffentlichkeit mit dem Überfall auf die Ukraine rapide. Seitdem ist die öffentliche Kommunikation – vor allem jene der Herrschaftselite – in höchstem Maße auf das Ziel des Machterhalts ausgerichtet. Treffend unterscheidet Alexander Dukalskis sechs „Elemente [. . .] Legitimität stiftender Botschaften“ in autoritären Öffentlichkeiten:
„Elemente der Verheimlichung verbannen unbequeme oder unangenehme Aspekte despotischer Herrschaft aus der öffentlichen Diskussion. Framing-Elemente verpacken bestimmte Ereignisse oder Themen so, dass sie mit der herrschenden Ideologie und Legitimität des Regimes übereinstimmen. Blaming-Elemente, also solche der Schuldzuweisung, schreiben die Verantwortung für unerwünschte Ergebnisse einer oder mehreren nichtstaatlichen Gruppen, Organisationen, Aktivitäten oder Einzelpersonen zu und lenken so von einer potentiellen Schuld des Staates ab. Elemente der Unvermeidlichkeit zeichnen die herrschende Macht so, dass sie geeint und fest verankert sei und auf Dauer herrschen werde. Elemente eines mythischen Ursprungs sind rückwärtsgewandt. Sie verbinden das herrschende Regime mit der Legitimität von Gründerfiguren, Kriegen oder Volksaufständen, die das Regime an die Macht gebracht haben oder auf die es seine Ursprünge zurückführt. Elemente, die auf das Land der Verheißung verweisen, sind zukunftsorientiert. Sie vertrösten die Bevölkerung auf eine bessere Zukunft und koppeln diese Aussicht an die Fortsetzung der Herrschaft der Regierenden.“[42]
Während Politiker und Angehörige der Medien sich in den Dienst dieser Ziele stellten, verloren demokratische diskursive Ideale wie Kohärenz, Faktizität, Aufrichtigkeit und intersubjektive Nachvollziehbarkeit in Russlands Öffentlichkeit nahezu jede Bedeutung. Dies sei an einem Beispiel illustriert: der offiziellen Darstellung der Vorbereitung auf Russlands Angriffskrieg und dessen nachträgliche Rechtfertigung. Noch wenige Tage vor dem Überfall bezeichnete Außenminister Sergej Lavrov die Warnungen, dass ein Angriff bevorstünde, als „Gerüchte“, als „Informationsterrorismus“ und „Hysterie des Westens“.[43] Er verbat sich jede Einmischung in Russlands innere Angelegenheiten und kündigte an, dass die russländischen Soldaten nach ihren „Übungen“ in der Grenzregion planmäßig in ihre Kasernen zurückkehren würden. Diese gebetsmühlenartig wiederholte Stellungnahme des Außenministers erwies sich als Täuschungsmanöver, als Putin in den frühen Morgenstunden des 24. Februars den Angriffsbefehl erteilte. Vollständig von der intersubjektiv nachvollziehbaren Wirklichkeit losgelöst, behauptete Lavrov noch zwei Wochen nach der Invasion, Russland habe „die Ukraine nicht angegriffen“.[44]
Russlands Öffentlichkeit hat bis heute die Tatsache, dass Russland diesen Krieg mit einer großen Lüge begann, aufgrund der staatlichen Repressionen nicht einmal im Ansatz aufarbeiten können. Stattdessen verbreitet Russlands Propaganda-Apparat seit Beginn des Überfalls zahlreiche, sich teils widersprechende Narrative, wieso der – zuvor vehement geleugnete – Angriff erforderlich und gerechtfertigt sei.
Verrohung des Diskurses und Verherrlichung von Gewalt
Wie das Beispiel der demonstrativen Ausstrahlung einer Folterszene zeigt, ist seit Beginn des massiven Angriffskriegs eine Verrohung und Brutalisierung des öffentlichen Raums zu beobachten. Visualisierte Kommunikation findet nicht nur in sozialen Netzwerken, sondern insbesondere im reichweitenstarken Staatsfernsehen statt. Ein in seiner Wirkung auf das breite Publikum Russlands kaum zu überschätzendes Format ist die „politische Talkshow“, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einem wichtigen Fernsehformat geworden ist.[45] Bekannte Talkshows sind Bol’šaja igra (Großes Spiel) im Ersten Kanal oder Večer s Vladimirom Solov’evom (Der Abend mit Vladimir Solov’ev) auf Rossija. In den Rankings gehören politische Talkshows zu den meistgesehenen Sendungen des Tages. Sie haben einen Zuschaueranteil von bis zu 25 Prozent, mitunter sogar mehr.[46] Die Diskussionen werden von den Produzenten weitgehend inszeniert. Gelegentlich kommen angeheuerte russlandkritische oder prowestliche „Experten“ zu Wort, die von den anderen Diskutanten auf das Übelste beschimpft werden. In Einzelfällen werden sie sogar gewaltsam aus dem Studio geworfen.[47] Während die Nachrichtensendungen der staatlichen Kanäle wie Vremja (Erster Kanal), Vesti (Rossija1) oder Segodnja (NTV) die Botschaften des Kreml in einem Format präsentieren, das professionellen Journalismus simuliert und sie sich eines eher sachlichen Sprachstils bedienen, zielen die Talkshows auf Emotionalisierung und die niederen Instinkte des Publikums.[48] Der Anspruch, dass die Aussagen der Gäste faktengestützt oder gar wahr sind, ist in diesen Talkshows geringer als in den Nachrichtensendungen. Dadurch ist es noch leichter, Falschinformationen und Verschwörungstheorien zu verbreiten.[49]
Unmittelbar nach dem Überfall auf die Ukraine stellten die beiden reichweitenstärksten Sender, der Erste Kanal und Rossija 1, ihr Programm so um, dass es vom späten Morgen bis Mitternacht ausschließlich aus Nachrichten und Propaganda-Talkshows im Wechsel bestand.[50] Anfang März 2022 liefen diese Formate auf dem Ersten Kanal über 15 Stunden.[51] Im Februar 2023 brachte der Erste Kanal an einem gewöhnlichen Wochentag noch immer zehn Stunden Propaganda-Talk.[52] Im Februar 2024 waren es noch rund neun Stunden.[53] Teilnehmer dieser Propaganda-Talkshows schüren Hass auf die Ukraine und westliche Staaten, entmenschlichen ukrainische Kriegsopfer, rufen zu Kriegsverbrechen auf und drohen den westlichen Staaten mit Raketenangriffen und Nuklearschlägen. Am 10. Oktober 2022 zeigte die Talkshow Mesto Vstreči des Fernsehsenders NTV in einem Einspieler, wie getötete ukrainische Zivilisten mit Füßen in Gräben getreten werden. Diese Bilder wurden als Rache für die Beschädigung der Kerč-Brücke durch die ukrainische Armee und den „gewöhnlichen ukrainischen Faschismus“ kommentiert.[54] Sie wurden ohne Rücksicht auf Jugendschutz um 14.00 Uhr auf einem der meistgesehenen Fernsehsender gezeigt. In diesen Talk-Formaten kommt es nicht nur zu derartigen Entmenschlichungen, sondern „Experten“ breiten regelmäßig ihre Gewaltphantasien aus. Während Bilder – von düsterer Musik unterlegt – von rauchenden Ruinen der ukrainische Staat Vovčans’k eingespielt werden, die Russlands Armee vollkommen zerstört hat, droht Talkmaster Vladimir Solov’ev:
„Versteht ihr, dass so auch die Städte Deutschlands aussehen werden? Aber mit ihnen werden wir noch viel grausamer umgehen. Wir werden einfach alles zerstören! Versteht ihr das? Oder habt ihr es nötig, dass russländische Soldaten noch einmal in Euer Land kommen? Aber dieses Mal werden wir nicht mehr abziehen!“[55]
Welche Funktion haben diese von Hass und Drohungen erfüllten Diskurse für Politik und Öffentlichkeit? Fest steht, dass Vladimir Putin jeden dieser Talkmaster mit seiner Show sofort von Bildschirm verbannen könnte. Ohne Zweifel goutiert die Herrschaftselite, dass die Talk-Propagandisten täglich das breite Publikum mit derartigen Inhalten bearbeiten. Russlands Autokrat würde viele der teils widersprüchlichen, hasserfüllten Aussagen nicht in derselben Klarheit, Emotionalität und Brutalität formulieren. Insofern ist davon auszugehen, dass diese Talk-Formate primär dazu dienen, Russlands Bevölkerung für den Krieg zu mobilisieren. Sie sollen Hass gegen äußere und innere Feinde schüren und im kollektiven Bewusstsein das neo-imperialistische Weltbild verankern und vermitteln, dass es sich bei der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine um einen legitimen und zwingend notwendigen Krieg handelt. Der Tod von Hunderttausenden Menschen muss gerechtfertigt werden. Zweitens dienen diese Talk-Formate, über die wiederum westliche Medien berichten und in Ausschnitten weiter verbreiten, auch dazu, im Ausland Angst zu erzeugen. Russlands Herrschaftseliten können in dieser Situation jede Verantwortung für Hassbotschaften und Drohungen von sich weisen. Und Putin kann sich in einer hasserfüllten Öffentlichkeit sogar als gemäßigter und vernünftiger Führer präsentieren. Und das Format der Talkshow bot zumindest bis zum Februar 2022 den Anschein von Meinungsvielfalt in der russländischen Öffentlichkeit.
Dass die Bevölkerung nun schon seit Jahren intensiv mit Hass, entmenschlichenden und gewaltverherrlichenden Botschaften beschallt wird, dürfte nicht ohne Wirkung auf die Werte und Vorstellungen der Menschen in Russland bleiben.
Unterordnung aller gesellschaftlichen Teilsysteme
Nicht nur im Bereich der Medien, sondern auch in allen anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie der Kunst, der Bildung und der Religion wurden Nischen, in denen in Russlands Autoritarismus lange Zeit noch Dissens und Kritik formuliert werden konnten, geschlossen und dem Herrschaftsanspruch des Putin-Regimes untergeordnet. So konnte die unabhängige Theaterszene, die schon in den 2010er Jahren immer wieder Repressalien ausgesetzt war, nach dem 24. Februar 2022 nicht mehr existieren. Die Leitung wichtiger unabhängiger Theater wurde ausgetauscht, in den Häusern werden nun patriotische Stücke aufgeführt. In den orthodoxen Kirchen müssen Geistliche seit September 2022 Sanktionen fürchten, wenn sie sich weigern, ein vorformuliertes „Gebet des Patriarchen über die Heilige Rus’“ vorzutragen, das vom Sieg über die Ukraine handelt.[56] Mit Blick auf das Bildungssystem beobachtet der Bildungsforscher Igor Chirikov eine „weaponization of Russian universities“.[57] Ähnliches ist in Kindergärten und Schulen zu beobachten.[58] Die Militarisierung der Hochschulen zeigt sich nach Chirikov auf drei Ebenen. Erstens müssen Universitäten die Kriegsanstrengungen unterstützen. So sammeln Studierende an vielen Universitäten Geld zur Anschaffung von Drohnen. Dozierende werden angehalten, Geld für das Militär zu spenden. Zudem ist eine Militarisierung der Curricula zu beobachten. So sollen alle Studierenden künftig an den Universitäten eine militärische Grundausbildung erhalten, in der sie lernen, wie sie automatische Waffen zerlegen und Handgranaten im Kampf einzusetzen. Zweitens haben die Universitäten die Aufgabe, die ideologischen Ziele des Regimes zu unterstützen und Kriegspropaganda zu verbreiten. So wurden etwa Zehntausende Studienanfänger zur Teilnahme an einem neu entwickelten Kurs „Grundlagen der russländischen Staatlichkeit“ verpflichtet. Ein Auszug aus einem Lehrvideo dieses Kurses liest sich so:
„Die „russische Welt“ erstreckt sich über die derzeitigen russischen Grenzen hinaus und überschreitet Ethnien, Territorien, Religionen, politische Systeme und ideologische Präferenzen.“[59]
Drittens werden an Universitäten zunehmend nicht nur kritische Stimmen unterdrückt, sondern es wird auch Druck auf Studierende und Dozentinnen ausgeübt, ihre Loyalität gegenüber dem Regime offen zu zeigen. Als Folge dieser politischen und militärischen Instrumentalisierung ist eine wachsende internationale Isolation der russländischen Universitäten zu beobachten. Dieser Trend wird einerseits durch die infolge des Krieges verhängten westlichen Sanktionen gegen Russland verstärkt. Andererseits pflegen Hochschulen aus Russland weiterhin Kontakte und Austausch mit Universitäten und Forschungseinrichtungen in China und Iran. Zu beobachten ist also, dass die ideologische Kontrolle zunehmend die Öffentlichkeit aller gesellschaftlichen Teilsysteme durchdringt und das Regime nun anders als in den ersten beiden Jahrzehnten der Putinschen Herrschaft allen Bereichen nicht mehr Demobilisierung und Passivität der Bevölkerung fördert, sondern immer häufiger Mobilisierung, Partizipation und öffentliche Loyalitätsbekundung einfordert.
Florian Töpfl (1977), Dr. phil. habil., Kommunikationswissenschaftler, Professor für Politische Kommunikation mit Schwerpunkt auf Osteuropa und die postsowjetische Region, Universität Passau
Der vorliegende Beitrag basiert unter anderem auf Forschungsarbeiten des Projektes RUSINFORM, welches vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramms der Europäischen Union (Zuschussvereinbarungsnummer 819025) gefördert wurde.
[1] Timothy Garton Ash: Homelands. A personal history of Europe 2023, S. xv.
[2] Florian Toepfl: Comparing Authoritarian Publics: The Benefits and Risks of Three Types of Publics for Autocrats, in: Communication Theory, 2/2020, S. 105–125, <https://doi.org/10.1093/ct/qtz015>.
[3] Anna Litvinenko, Florian Toepfl: The „Gardening“ of an Authoritarian Public at Large: How Russia’s Ruling Elites Transformed the Country’s Media Landscape after the 2011/12 Protests „For Fair Elections“, in: Publizistik, 2/2019, S. 225–240.
[4] Steven Levitsky, Lucan A. Way: Competitive Authoritarianism: Hybrid Regimes After the Cold War. London 2010.
[5] Levitsky, Way, Competitive Authoritarianism [Fn. 4], S. 3.
[6] Ebd., S. 4.
[7] Toepfl, Comparing Authoritarian Publics [Fn. 2].
[8] Anna Ryzhova, Florian Toepfl: The Consequences of Evidence Versus Non-Evidence-Based Understandings of the „Truth“: How Russian Speakers in Germany Negotiate Trust in Their Transnational News Environments, in: The International Journal of Press/ Politics, 1/2025, S. 326–345. – E. Mickiewicz: Does „trust“ mean attention, comprehension, and acceptance? Paradoxes of Russian Viewers News Perception, in: K. Voltmer (Ed.): Mass media and political communication in new democracies. London 2006, S. 189–209. – E.P. Mickiewicz: Television, Power, and the Public in Russia. Cambridge 2008. – Florian Toepfl: Making sense of the news in a hybrid regime: How young Russians decode state TV and an oppositional blog, in: Journal of Communication, 2/2013, S. 244–265. Viele Studenten waren Anfang der 2010er Jahre durchaus in der Lage, die Nachrichtensendungen auf den zentralen Fernsehkanälen kritisch zu deuten. Die meisten waren sich darüber bewusst, dass die Fernsehkanäle „Werkzeuge der Machthaber“ waren und der Inhalt manipuliert sei.
[9] Litvinenko, Toepfl: The „Gardening“ [Fn. 3].
[10] Rolf Fredheim: The loyal editor effect: Russian online journalism after independence, in: Post-Soviet Affairs, 1/2017, S. 34–48.
[11] Benjamin Bidder: Controlling the Press: Echo of Moscow under Pressure in Russia. Der Spiegel, 17.2.2012.
[12] Ministerstvo Oborony Rossijskoj Federacii: Obščestvennyj Sovet, 19.1.2017, <https:// web.archive.org/web/20170119002754/http://function.mil.ru/function/public_board.htm>. Die Webseite des Gesellschaftsrats wurde im Februar 2022 deaktiviert. Long Standing Radio Editor Re-elected to Post at Echo Moskvy. The Moscow Times, 3.4.2014.
[13] Echo Moskvy: One Of Russia’s Last Independent Broadcasters, Closes Amid Government Crackdown. Radio Free Europe/Radio Liberty, 2.3.2022.
[14] Welche Rolle der Ex-Chefredakteur Venediktov dabei spielte, ist ebenso unklar wie seine heutige. Er reist in den Westen, gibt Interviews, in denen er so erstaunliche Aussagen verbreitet wie die, dass sich für Journalisten die Arbeitsbedingungen durch den Krieg ebenso wenig verändert hätten wie für Chirurgen und Professoren, man könne alle Informationen über den Krieg erhalten, beklagt das Einfrieren russländischer Auslandsvermögen und setzt sich für die Aufhebung der Sanktionen ein. Alexei Wenediktow: „Die Schweiz kann im Ukraine-Krieg nicht mehr vermitteln.“ Swissinfo, 8.2.2023. Journalisten und Intellektuelle, die aus Russland ins Exil getrieben wurden, betrachten Venediktov mit Skepsis. Für sie agiert er als „Fake Defector“, als Person, die im Westen als „oppositionell“ gilt, de facto aber (Propaganda-)Interessen des Kreml im Ausland verbreitet und deshalb nach wie vor vom Kreml unterstützt werde.
[15] I. Yablokov: Russia’s recently exiled media learn hard lessons abroad. Open Democracy. 22.12.2022.
[16] Siehe dazu den Beitrag von Ksenja Lučenko im vorliegenden Band, S. 365–384 sowie den zum Verlagswesen im Exil von Felix Sandalov, ebd., S. 397–410.
[17] Grigorij Ochotin: Agentenjagd. Die Kampagne gegen NGOs in Russland, in: Osteuropa, 1–2/2015, S. 83–94. – OVD-Info: Diskriminierung auf ganzer Linie. Russlands Gesetz über ausländische Agenten, in: Osteuropa, 8–9/2021, S. 241–248. Zur jüngsten Entwicklung: <https://inoteka.io/ino/foreign-agents>. Siehe auch Tabelle 1 und die Graphik auf S. 399.
[18] Juri Rescheto: Russia tightens „undesirable organizations“ law. Deutsche Welle.com, 27.7.2024.
[19] Ministerstvo Justicij Rossijskoj Federacii: Perečen’ inostrannych i meždunarodnych nepravitel’stvennych organizacij, dejatel’nost’ kotorych priznana neželatel’noj na territorii Rossijskoj Federacii, 4.10.2024, <https://archive.ph/zsplH>. – Rescheto, Russia tightens [Fn. 18].
[20] Donald N. Jensen, Angela Howard: How Russia’s military bloggers shape the course of Putin’s war. The Kyiv Independent, 8.8.2023.
[21] S. Frederick Starr: Ukraine and Russia’s Collapsing Home Front. The National Interest, 24.11.2024.
[22] Committee to Protect Journalists Understanding the laws relating to „fake news“ in Russia <https://cpj.org/wp-content/uploads/2022/07/Guide-to-Understanding-the-Laws-Relating-to-Fake-News-in-Russia.pdf>.
[23] Eto poka ne Bol’šoj terror. No ėto stalinskaja logika. Meduza, 13.4.2023. – OVD-Info: Repressions Report. Summary of the First Seven Months of 2024. 8.8.2024, <https://en.ovdinfo.org/repressions-report-january-june-2024>.
[24] Moskviču, učastvovavšemu v uličnom oprose o vojne, zamenili prinuditelnye raboty na real’nyi srok. BBC News Russkaja služba, 17.9.2024. – Žitelju Moskvy zamenili prinuditel’nye raboty na pjat’ let real’nogo sroka za učastie v oprose „Radio Svoboda“ o vojne v Ukraine. Meduza.io, 17.9.2024. – Mosgorsud otpravil na pjat’ let v koloniju moskviča za fejki o VSRF v interv’ju. Tass.ru, 17.9.2024.
[25] N. Williams: Alexei Moskalev: Father of girl who drew anti-war picture released from prison. BBC News, 16.10.2024.
[26] Mit dem Projekt „Gefangen in Russland“ dokumentieren die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) , die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und das Menschenrechtszentrum Memorial das Schicksal politischer Gefangener in Russland: <https://gefangen-in-russland.de/>
[27] Special Rapporteur exposes torture in Russia as a tool for repression at home and aggression abroad. Ohchr.org, 29.10.2024.
[28] Ebd.
[29] Carlotta Gall, Oleksandr Chubko: Ukrainians Tell of Brutal Russian Repression in Occupied Territorie. The New York Times, 30.10.2024. – Dazu auch Stanislaw Assejew: Heller Weg, Donezk. Bericht aus einem Foltergefängnis. Berlin 2023.
[30] Russian Officials Lauding Torture Was Unthinkable, Now it is Proud to do-so. The Guardian, 25.3.2024.
[31] Daria Kravets u.a.: The Kremlin-Controlled Search Engine Yandex as a Tool of Foreign Propaganda, in: Russian Analytical Digest, 313/2024, S. 11–15.
[32] J. Kling, F., Toepfl, P. Jürgens: Entertainment interspersed with propaganda: How non-legacy-news accounts deliver explicitly political content to mass audiences on Russia’s most popular social network VK, in: Information, Communication & Society, 2024, 1–18. <https://doi.org/10.1080/1369118X.2024.2420029>.
[33] Philipp Dietrich: The Key Player in Russia’s Cybersphere. What the West needs to know about VK Company DGAP Policy Brief 4/2023, 20.9.2023.
[34] Siehe dazu den Beitrag von Wanja Müller im vorliegenden Band, S. 433–442
[35] Auf dem Weg in die Abkapselung. Zeit-Online, 5.3.2022.
[36] Stanislav Shakirov: What Should Russians Do If VPNs Are Banned? The Moscow Times, 14.6.2024.
[37] Russland verlangt 19 Quintilliarden Euro von Google. Capital.de, 31.10.2024.
[38] YouTube Practically „Blocked“ in Russia, Expert Says, as Traffic Plummets. Rferl.org, 24.12.2024.
[39] Yandex verkauft sein Russlandgeschäft. N-tv.de, 5.2.2024.
[40] Wie Russland westliche Social-Media-Plattformen kontrolliert. Mdr.de, 5.12.2024.
[41] Jürgen Habermas:. Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/Main 1981.
[42] Alexander Dukalskis: The authoritarian public sphere: Legitimation and autocratic power in North Korea, Burma, and China. London 2017, S. 33.
[43] Lavrov blasts West’s „Russian invasion of Ukraine“ rumors as information terrorism. Tass, 15.2.2022.
[44] Russia „did not attack Ukraine“ says Lavrov after meeting Kuleba. Euronews, 10.3.2022.
[45] Magdalena Kaltseis: TV-Talkshows als Propagandainstrument Russlands im Ukrainekonflikt (2014). Berlin, Boston 2022. – Dies.: War Discourse on TV: A Glimpse into Russian Political Talk Shows (2014 and 2022) in: Zeitschrift für Slawistik, 3/2023, S. 375–397.
[46] <www.dekoder.org/de/gnose/politische-talkshows-posner-kisseljow#fuss3>.
[47] Kaltseis, War Discourse [Fn. 44].
[48] Kaltseis, TV-Takshows [Fn. 44]. – Kaltseis, War Discourse [Fn. 44].
[49] Eva Binder, Magdalena Kaltseis: Odessa 2014: Alternative news and atrocity narratives on Russian TV, in: Peter Deutschmann u.a. (Hg.): Truth and Fiction. Conspiracy Theories in East European Culture and Theory. Bielefeld 2020, S. 185–210.
[50] Kaltseis, War Discourse [Fn. 44].
[51] Exemplarisch das Fernsehprogramm <www.1tv.ru/schedule/2022-03-03>.
[52] Teleprogramma, 28.2.2023. 1tv.ru, <www.1tv.ru/schedule/2023-02-28>.
[53] Teleprogramma, 28.2.2024. 1tv.ru, <www.1tv.ru/schedule/2024-02-28>.
[54] Mesto Vstreči, 10.10.2022. Den’ nastal?! <www.ntv.ru/peredacha/Mesto_vstrechi/m52562/o706540/>.
[55] D. Kazan’sky: Russian state TV shows the destroyed Ukrainian town of Vovchansk and threatens that German cities will look the same. Twitter, 7.6.2024, <https://x.com/den_kazansky/status/1799046473528819848>. Das Originalvideo ist abrufbar unter <www.ntv.ru/peredacha/Mesto_vstrechi/m52562/o706540/video/>.
[56] Alexander Soldatov: Der Patriarch und das kosmische Böse. Dekoder, 18.12.2024. – Joachim Willems: Ein Diener zweier Herren. Patriarch Kirill und seine Kriegspredigten, in: Osteuropa, 3–4/2023, S. 221–234 sowie die Dokumentation von sieben Predigten, ebd., S. 235–260.
[57] Igor Chirikov: The Weaponization of Russian Universities: A Neo-Nationalism and University Brief. Center for Studies in Higher Education, Research & Occasional Paper Series 13/2023, <https://eric.ed.gov/?id=ED639914>
[58] Dar’ja Talanova: „Blut tropft aus dem Ranzen. Patriotismuserziehung an Russlands Schulen, in: Osteuropa, 12/2022, S. 115–126.
[59] Chirikov, The Weaponization [Fn. 55], S. 1.
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